Sachverständigenrat widmet sich dem Thema Gesundheit |
20.11.2000 00:00 Uhr |
Der Wirtschafts-Sachverständigenrat (SVR) hat sich in seinem neuen Jahresgutachten wieder einmal ausführlicher mit dem Gesundheitswesen beschäftigt. Die nicht überraschende Diagnose lautet: "Dringender Reformbedarf". Im Gegensatz zur Finanz- und Rentenpolitik beurteilen die fünf Ökonomie-Professoren die gesundheitspolitischen Leistungen von Rot-Grün eher schlecht. Gemessen an den zunächst formulierten Ansprüchen sei die Koalition zu kurz gesprungen, allerdings gebe es in der GKV-Gesundheitsreform 2000 auch zukunftsweisende Elemente, heißt es. Gemeint sind vor allem das neue Kapitel "Integrierte Versorgung" und die geplante Umstellung der Krankenhausvergütung auf diagnosebezogene Fallpauschalen.
Zuletzt hatte sich der Sachverständigenrat 1996 intensiver dem Gesundheitswesen gewidmet und dabei das Modell einer Krankenversicherungspflicht für alle in einem einheitlichen Versicherungssystem mit risiko-äquivalenten Prämien ausgesprochen. In diesem Jahr greift der Rat dieses liberale Modell nochmals auf, bezeichnet den "Systemwechsel" jedoch nur noch als eine Möglichkeit für eine grundlegende Reform. Ein solcher Systemwechsel würde die Unterschiede zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufheben, die Beitragszahlung nach Einkommen wie in der GKV (die solidarische Finanzierung) entfällt, dafür bekommen einkommensschwache Versicherte für die Absicherung der Kernleistungen gegebenenfalls einen Zuschuss vom Staat. Das Modell entspricht dem jüngsten gesundheitspolitischen Projekt der FDP, und auch einige Privatversicherungen finden daran gefallen.
Das SVR-Gutachten 2000 stellt diesem Konzept einer letztlich privaten Pflichtversicherung nun einen zweiten grundlegenden Reformweg zur Seite, den der zielgerichteten aber schrittweisen "Systemevolution". Als Reformziele nennt der Rat: Bessere medizinische Qualität, Beseitigung von Fehlanreizen und Organisationsmängeln sowie mehr Effizienz. Das deutsche Gesundheitssystem sei jedenfalls "nicht wie oft behauptet das beste der Welt". Dies gelte um so mehr, "wenn durch die Beibehaltung der sektoralen Budgetierung Zugangsbeschränkungen und Innovationsgefährdungen zu befürchten sind", so die Professoren. Die sektorale Abschottung führe zu Ineffizienzen, der Krankenhaussektor und die Zahl der niedergelassenen Fachärzte ist zu groß, die Patienten nehmen insbesondere die ambulante Medizin extensiv in Anspruch, dort bestimmen weitgehend die Ärzte, von der Einzelleistungsvergütung getrieben, das expansive Leistungsgeschehen.
Die Wirtschaftsprofessoren warnen davor, die Beitragssatzstabilität in der GKV zum vorrangigen Ziel der Gesundheitspolitik zu machen. Die Kostendämpfungspolitik der letzten zwei Jahrzehnte mit über 200 Einzelgesetzen zielte nach Auffassung des Rats trotz kurzfristiger Erfolge "nicht auf den Kern des Problems". Eine plakativ unter dem Schlagwort "Kostenexplosion" geführte Diskussion gehe in die Irre. Ausgaben- und Beitragssatzsteigerungen in der GKV stellten keine Fehlentwicklungen dar, "wenn die ihnen zugrunde liegenden Ausgabensteigerungen das Ergebnis veränderter Morbidität, demographischer Entwicklungen, medizinisch-technischen Fortschritts oder geänderter Präferenzen sind". Zu berücksichtigen sei auch, dass der Gesundheitssektor eine beschäftigungsintensive Wachstumsbranche sei.
Nötig sind stattdessen eine deutliche Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen und zwischen den Leistungserbringern sowie die Schärfung des Kostenbewusstseins der Patienten. Eine Reduzierung der medizinisch gebotenen Versorgung lehnt der Rat als Reformziel ab. Umsetzungschancen werde ein Konzept im übrigen nur dann haben, wenn es gelinge klar zu machen, dass damit auch ökonomische Vorteile "sowohl für die Patienten als auch für die kompetitiven und innovativen Leistungsanbieter verbunden sind". Im einzelnen fordert der Sachverständigenrat unter anderem:
o Die Anwendung des Konzepts evidenzbasierte Medizin und von Behandlungsleitlinien, etwa nach holländischem Vorbild, und ein "Behandlungs-Controlling" durch die Kassen;
o "Eine sinnvolle Flankierung" derartiger Behandlungsempfehlungen durch die für 2002 avisierte Positivliste erstattungsfähiger Arzneimittel, "wie sie in nahezu allen Ländern Europas existiert". Sie "dürfte nicht zu einer Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit führen und zudem den Leistungswettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt intensivieren".
o Weitgehende Ablösung der Einzelleistungsvergütung in der ambulanten Medizin durch Kopfpauschalen in der hausärztlichen und Fallpauschalen in der fachärztlichen Versorgung;
o Eine Praxisgebühr, die der Patient bei jeder Erkrankung für den ersten Arztbesuch an die Krankenkassen zu zahlen hat.
Im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen ist nach Einschätzung des Sachverständigenrates eine Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs erforderlich, damit sich der Kassenwettbewerb stärker auf Versorgungsangebote für chronisch Kranke konzentriert. Außerdem müsste die Finanzierungsbasis breiter werden, indem auch andere Einkunftsarten als Löhne und Gehälter zur Beitragsbemessung herangezogen werden. Um keine Anreiz zu geben, aus diesem Grund eine andere Form der Erwerbstätigkeit zu wählen, müsste "dieser Reformschritt auf alle Erwerbstätigen angewendet werden". Alle Beamte und Selbständige hätten demnach einen "Prozentsatz ihres Einkommens bis zur Beitragsbemessungsgrenze als Beitrag" an die GKV zu entrichten.
Insbesondere für die Private Krankenversicherung (PKV), aber auch für die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) enthält die Expertise noch weitere schwer verdauliche Botschaften:
o Vier der fünf Sachverständigen stellen die Pflichtversicherungsgrenze in der GKV in Frage. Dass sich ausgerechnet die besser Verdienenden aus der solidarischen Krankenversicherung durch Wechsel zur PKV verabschieden können, sei unlogisch. Zudem führe dies durch die Möglichkeit der freiwilligen Mitgliedschaft zur Konzentration schlechter Risiken bei der GKV.
o Die KVen werden als "Regional-Monopole" eingeschätzt, die einer effizienzsteigernden Versorgung eher im Wege stehen.
o Die Zerschlagung der "Regional-Monopole" würde zu Einkommenseinbußen der Vertragsärzte führen aber nur unter Status-quo-Bedingungen und kurzfristig, so der SVR. "Natürlich wird es bei und nach einer effizienzsteigernden Intensivierung des Wettbewerbs um Patienten und zwischen den Leistungsanbietern Verlierer geben", heißt es weiter. Gleichzeitig aber würden "die wettbewerbsfähigen Ärzte, Praxisnetze, Krankenhäuser und Arzneimittelanbieter" auch im Vergleich zu heute mit höheren Überschüssen rechnen können.
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