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SPD verliert sich

31.10.2005  00:00 Uhr

SPD verliert sich

von Thomas Bellartz, Berlin

Der Reformationstag 2005 ist ein Tag für die Geschichtsbücher der Volkspartei SPD. Mit der Rücktrittsankündigung Franz Münteferings verliert die Partei nicht nur ihren Vorsitzenden, sondern driftet ins Diffuse. Die Folgen eines vermurksten Wochenstarts dürften weitreichend und derzeit unabsehbar sein.

Seit Montag steckt die große deutsche Volkspartei SPD in einer ihrer schwersten Krisen. Mit Müntefering verliert die Partei ausgerechnet den Mann, der sie nach der Demission von Gerhard Schröder führen wollte und sollte. Erinnert man sich des Auslösers der neuen und undurchsichtigen Gemengelage, dann wird schnell deutlich, wie schwer der Verlust wiegen dürfte.

Müntefering hat sein persönliches Fortkommen an einer Kampfabstimmung festgemacht, von der er wusste, dass sie verloren gehen könnte. Er hat gehofft auf die Loyalität seiner Genossen, auf die Zustimmung seiner Vorstandskolleginnen und -kollegen. Und genau deswegen wollte er wohl keine Drohung an die Betonung knüpfen, wie wichtig ihm als Generalsekretär Kajo Wasserhövel gewesen wäre ­ und eben nicht Andrea Nahles.

Die frühere Juso-Vorsitzende ist indes keine Königsmörderin, auch wenn dieses Zerrbild in den vergangenen Tagen gerne gezeichnet wurde. Die Literaturwissenschaftlerin hatte schlichtweg die Unterstützung vieler Präsidialer, eben weil sie 35 Jahre alt ist, weil sie engagiert ist, weil sie Frau ist und weil sie eines der größten (und seltenen) politischen Talente der SPD ist.

Der Posten des Generalsekretärs ist mit Müntes Demission wichtiger denn je. Nahles verbrachte die vergangenen Monate ohnehin bereits im Willy-Brandt-Haus, hatte dort ein eigenes Büro. Die Politkarrieristin hatte in der vergangenen Legislaturperiode nicht dem Bundestag angehört, bei der Wahl im September aber wieder den Einstieg geschafft. Innerhalb der Partei gilt Nahles als brillante Programmatikerin und auch als »Vorzeige-Linke«. Für Aufmerksamkeit sorgte Nahles besonders im vergangenen Jahr als Kopf der SPD-Arbeitsgruppe zur Bürgerversicherung. Sie arbeitete sich tief in das Gebiet ein, präsentierte im September 2004 gemeinsam mit Müntefering das 70-seitige Papier, das die inhaltliche Basis für die gesundheitspolitischen Koalitionsverhandlungen bildete.

Egal, wie die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD weitergehen, die SPD ist auf dem besten Weg, sich ohne Sinn und Verstand selbst zu demontieren. Nach dem Kanzler kommt ihr der Vorsitzende abhanden. Und auch die Generalsekretärin gilt noch längst nicht als gewählt. Sie dürfte sich beim SPD-Bundesparteitag Mitte November in Karlsruhe heftigen Reaktionen ausgesetzt sehen. Dabei hat Nahles zumindest einen kräftigen Rückhalt in der Parteilinken.

Gesundheits- und sozialpolitisch steht Nahles für einen eher klassischen SPD-Kurs. Auf viel Gegenliebe bei der alten und neuen Ressortleiterin Ulla Schmidt dürfte sie jedoch nicht stoßen. Den beiden Damen wird ein Nicht-Verhältnis nachgesagt. Und Schmidt war live dabei, als Nahles' Kampfkandidatur zum Müntefering-Sturz führte. Die Gesundheitsministerin hatte sich bei den Planungen zur Bürgerversicherung heftige Auseinandersetzungen mit Nahles geliefert. Schmidt wird dem eher konservativen Seeheimer Kreis zugerechnet. Einen guten Stand bei Nahles dürfte indes Professor Dr. Karl Lauterbach haben. Sein Ende als Flüsterer von Schmidt war eingetreten, als er sich bei der Arbeitsgruppe zur Bürgerversicherung allzu weit aus dem Fenster gelehnt und sich damit pro Nahles, aber gegen Schmidt positioniert hatte. Da Lauterbach nicht ins Personalkonzept für das Ministerium passt, könnte sich ein neuer Karriereweg eröffnen. Jede Veränderung bietet eben auch Chancen. Am Ende wenigstens für Politiker vom Schlage eines Professor Lauterbach. Top

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