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Globalbudget ist die größte Schwachstelle der Reform

13.09.1999  00:00 Uhr

- Politik Govi-Verlag

ANHÖRUNG

Globalbudget ist die größte Schwachstelle der Reform

von Karl H. Brückner und Dieter Schütz, Berlin

Die Expertenmeinung fiel überraschend einhellig aus. "Das Globalbudget ist eines der größten Schwachstellen der Gesundheitsreform", brachte Professor Dr. Eberhard Wille bei der öffentlichen Anhörung zur Gesundheitsreform im Bundestag die Kritik der meisten Sachverständigen auf den Punkt. Ein Ausgabendeckel in der gesetzlichen Krankenversicherung wurde von den Experten zwar nicht grundsätzlich abgelehnt. "Doch die eigentliche Frage ist, wie das Globalbudget bemessen wird", erklärte Hagen Kühn vom Wissenschaftszentrum Berlin.

Mit dem geplanten Globalbudget gingen die Experten zum Auftakt der öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages überaus kritisch ins Gericht. Wenn das Budget wie geplant nur mit den beitragspflichtigen Einnahmen der GKV wächst, befürchten sie Einschnitte in der Gesundheitsversorgung. "Dann verschärft sich die Rationierung", prophezeite Wille von der Universität Mannheim. Allerdings, so räumte er ein, seien davon lebensnotwendige medizinische Leistungen nicht betroffen.

Was die geplante Anbindung des Budgets an die Entwicklung der Grundlohnsumme bedeutet, machte Professor Jürgen Wassem von der Universität Greifswald mit einem Zahlenbeispiel deutlich:

Von 1976 bis heute ist das Bruttoinlandprodukt im Durchschnitt um 4,3 Prozent pro Jahr gestiegen. Im selben Zeitraum wuchsen die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) um 4,1 Prozent jährlich, die beitragspflichtigen Einnahmen der Krankenkassen jedoch nur um 3,3 Prozent. Das Globalbudget würde vermutlich auch in den kommenden Jahren weit hinter der Entwicklung des Bruttoinlandprodukts zurückbleiben. Das Fazit des Experten: "Der Weg in die Rationierung ist absehbar."

Erhebliche Bedenken gibt es gegen die Berechnungsgrundlagen für das Globalbudget des Jahres 2000. Als Ausgangspunkt dafür soll das Jahresrechnungsergebnis für 1998 genommen werden. Wille warnte: Die Rechnungsergebnisse des Jahres 1998 enthalten aber noch nicht die finanziellen Mehrbelastungen, die sich aus der Gesundheitsreform 2000 ergeben und vom Gesundheitsministerium auf rund eine Milliarde DM beziffert werden.

Das gleiche gilt nach Ansicht des Experten für die Ausweitung der physiotherapeutischen Leistungen, die erstmals im Jahr 1999 anfielen. Infolge von Vorzieheffekten im Jahre 1997 und Verunsicherungen im darauf folgenden Jahr lägen auch die Ausgaben für Zahnersatz 1998 deutlich unter den Normalwerten. Das Ausgangsjahr 1998 sei deshalb für die Bemessung des Globalbudgets im Jahr 2000 äußerst fraglich.

Wille sieht die Möglichkeit, das Globalbudget an die Wachstumsraten des Bruttoinlandprodukts zu koppeln. Um höhere Beitragssätze in der GKV zu vermeiden, müsste dann allerdings die Einkommensgrundlage für die Krankenkassen verbreitert werden. Dazu könnte etwa die Beitragsbemessungsgrenze für die GKV auf das Niveau der Rentenversicherung angehoben werden. Derzeit liegt im Westen die Höchstgrenze in der Krankenversicherung bei 6375 DM im Monat und in der Rentenversicherung bei 8500 DM. Im Osten sind es 5400 DM in der GKV und 7200 DM in der Rentenversicherung.

Über weitere Einnahmequellen für die Kassen hüllten sich die Experten in Schweigen. Theoretisch kommt zum Beispiel die Einbeziehung der Beamten in die gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht. Außerdem könnten auch Miet- und Zinseinnahmen bei der Berechnung der Kassenbeiträge berücksichtigt werden.

Als weiteren Schwachpunkt des Globalbudgets gilt der bürokratische Aufwand. Manfred Zipperer, ehemaliger Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium, sprach von einer "gigantischen Abstimmungsmaschinerie", in die die einzelnen Krankenkassen, die Landesverbände der Kassen, der jeweilige Bundesverband und die Aufsichtsbehörden eingebunden seien.

Auf verlorenem Posten in der zehnköpfigen Expertenrunde stand Professor Rolf Rosenbrock vom Wissenschaftszentrum Berlin. Er hält das geplante Globalbudget zumindest für die nächsten Jahre für machbar. In vielen Bereichen des Gesundheitswesens seien die Wirtschaftlichkeitsreserven noch bei weitem nicht ausgeschöpft, betonte er.

Stimmen zur "Qualitätssicherung"

Mit dem Gesetzentwurf zur GKV-Gesundheitsreform 2000 will die Koalition nicht nur Wirtschaftlichkeitsreserven freisetzen, sondern auch die Versorgungsqualität erhöhen. Neben neuen Instrumenten zur Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung (Integrationsversorgung) sind deshalb auch verschärfte Anforderungen an Qualitätssicherung und -management in Praxis und Klinik vorgesehen. In der öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages kamen dazu Experten zu Wort, unter anderem Sprecher der Ärzteschaft, der Krankenversicherungen sowie von Verbraucherorganisationen.

Ein Fazit: Versorgungsdefizite dürften durch bürokratische Reglementierung kaum zu beseitigen sein. Statt dessen sollten Anreize gesetzt werden, um Ärzte auf den Pfad der Anwendung Evidenz basierter Leitlinien zu lenken. Niemand widersprach der Einschätzung, dass hierzulande erhebliche Versorgungsdefizite bestehen. So sei etwa jeder zweite Patient mit Hypertonie, Herzinsuffizienz, koronarer Herzkrankheit oder Diabetes medizinisch unterversorgt, hieß es. Andererseits gibt es aber auch Überversorgung - Stichworte: Sonografie, selbstzuweisende Teilradiologie und Langzeit-EKGs.

Mit welchen Maßnahmen kann der Gesetzgeber Unter-, Über- und Fehlversorgung abbauen? Patentrezepte gibt es dafür nicht, so der Tenor der Anhörung. Dennoch herrschte in vielen Punkten weitgehende Übereinstimmung:

o Evidenz basierte Leitlinien können helfen, die Versorgungsqualität zu verbessern, aber man darf sich davon nicht die Lösung aller Versorgungsprobleme versprechen.

o Behandlungsleitlinien dürfen keine Richtlinien sein, sondern müssen einen "therapeutischen Korridor" definieren, in dem Ärzte in Praxis und Klinik je nach Situation und Fall Spielraum für individuelle Abweichungen haben.

o Bürokratische Zwangsmaßnahmen einer externen, von der Politik gesetzten Qualitätssicherung, sind wenig zielführend.

o Evidenz basierte Leitlinien sind noch ein weites Feld. Zwar gibt es eine Fülle von Leitlinien, aber sie sind nur ausnahmsweise direkt in Praxis und Klinik handhabbar. Meist ist es erforderlich, sie entsprechend anzupassen.

o Dennoch dürfte die Einschätzung richtig sein, dass die Anwendung bereits existierender Leitlinien einen Beitrag leisten könnten, um die Versorgungsqualität spürbar zu verbessern.

o Zumindest kurzfristig sind von der Anwendung Evidenz basierter Behandlungsleitlinien keine Einsparungen im Gesundheitswesen zu erwarten.

Dr. Karl Jung, Vorsitzender des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, stellte klar, dass der Ausschuss nicht Behandlungsrichtlinien erarbeiten, sondern nur für seine Umsetzung sorgen könne. Sprecher des Pflegerates und der Verbraucherverbände bemängelten, der Qualitätsbegriff sei zu stark auf die Medizin fokussiert. Andere Gesundheitsberufe und der Patient selber müssten mit einbezogen werden. Und Dr. Rainer Hess, Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) wies darauf hin, dass mehr Qualität auch Investitionen erfordere. "Wir müssen alles machen und alles aus dem Budget bezahlen - das kann nicht sein." Seine Forderung: Die Vergütung der Vertragsärzte sollte aufgestockt werden. Zum Nulltarif sei ein Qualitätszuwachs nicht zu haben.  Top

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