Reform 2000 provoziert ein "reglementiertes Chaos" |
07.06.1999 00:00 Uhr |
PZ-INTERVIEW
Die Europawahl steht vor der Tür. Bei der Neuordnung des Europäischen Parlaments ist auch die Gesundheitspolitik betroffen. Grund genug, Apothekerin Ursula Schleicher, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, zu einschlägigen gesundheitspolitischen Themen zu befragen.
PZ:Erwarten Sie nach den Europawahlen eine Wende in der europäischen Politik? Eventuell eine Beschleunigung zur politischen Union?
Schleicher: Eine Wende tritt für das Europäische Parlament ein. Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages haben wir wesentlich mehr Zuständigkeiten erhalten und werden diese natürlich auch ausschöpfen. Ich erwarte deshalb eine dynamischere Entwicklung und mehr Druck auf die fünfzehn Regierungen der EU, ihren Verpflichtungen auch tatsächlich nachzukommen.
Die zur politischen Union gehörende gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch die Innen- und Rechtspolitik stehen bereits unter Zeitdruck. Die Gefahren sind der Bevölkerung mit dem Krieg im Kosovo besonders deutlich geworden. Die Europäische Union braucht so schnell wie möglich eigene Instrumente, die im Ernstfall auch eingesetzt werden können.
PZ:Zur Zeit wird die Harmonisierung der nationalen sozialen Sicherungssysteme zu einem europäischen Einheitssystem nicht angestrebt. Könnte sich dies nach der Wahl ändern?
Schleicher: Der Vertrag von Amsterdam räumt in Artikel 137 Absatz 2 EGV der Europäischen Union eine Kompetenz für Mindeststandards im Bereich sozialer Sicherheit und sozialem Schutz ein. Während die CDU und CSU eine Harmonisierung der sozialen Sicherungssysteme prinzipiell ablehnen, zeigt sich die SPD neuen Ansätzen gegenüber offen. Sie fordert ein Korridormodell in der Sozialpolitik, das von der Koordinierung weg zur Harmonisierung der Sozialpolitik führen kann. Allerdings braucht sie dafür die Einstimmigkeit im Rat.
PZ: Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes haben unter den Leistungserbringern Unruhe geschaffen, auch unter den Apothekern, insbesondere in Grenzregionen. Sind die Ängste der Kollegen aus Ihrer Sicht berechtigt oder unbegründet?
Schleicher: Unruhe ist unter anderem entstanden, da bestimmte Leistungen im gesundheitlichen Sektor unter Umständen auch in einem anderen EU-Land eingeholt werden können. Im Arzneimittelmarkt bestehen nach wie vor große Unterschiede: So Bei der Klassifikation der Verschreibungspflicht; in der Anzahl vorhandener Arzneimittel und deren gegenseitiger Anerkennung; im Marktanteil von Generika; in der Erstattung von Arzneimitteln und gesundheitlichen Leistungen und; in der Preistransparenz von Arzneimitteln.
Sicher ist für den Verbraucher ein unterschiedliches Preis-Leistungs-Niveau Anreiz, den Wettbewerb im Markt zu nutzen.
PZ: Sie sind ein Verfechter des Verbotes von Versandhandel mit Arzneimitteln via Internet. Sehen Sie Möglichkeiten, dieses Verbot stärker abzusichern und justitiabel zu machen?
Schleicher: Unser gesundheitliches System entspricht in Deutschland einem hohen Schutz- und Sicherheitsniveau. Die Eröffnung eines Versandhandels für Arzneimittel über Internet widerspricht diesem hohen Schutzniveau, beziehungsweise setzt es außer Kraft. Meine Maxime ist: "Wehret den Anfängen". Daran arbeiten wir im Europäischen Parlament, um alle nur denkbaren Möglichkeiten auch eines zukünftigen Verbots auszuschöpfen.
PZ:Nach wie vor wird von interessierten Kreisen der Mehr- und Fremdbesitz auch für Deutschland gefordert mit der Begründung, das europäische Recht stehe ohnehin dem Verbot von Fremd- und Mehrbesitz entgegen. Welche Rechtsauffassung hat das europäische Parlament?
Schleicher: Diese Frage ist in Europa bisher nicht geregelt beziehungsweise harmonisiert. Deutschland hat gegenüber anderen Mitgliedstaaten eine sehr strenge Regelung. Solange dagegen nicht geklagt wird, besteht kein Harmonisierungsbedarf.
PZ: Zur Zeit wird in der Bundesrepublik Deutschland die Gesundheitsreform 2000 diskutiert. Sehen Sie in diesem Reformvorhaben europäisches Recht berührt?
Schleicher: Die deutsche Gesundheitsreform 2000 provoziert ein reglementiertes Chaos, das weder der Sache, noch dem Patienten noch der Therapiefreiheit dienlich sein kann. Ich sehe kein europäisches Recht berührt, aber die Entwicklung zu neuen Erwartungshaltungen in Europa.
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