Kanzleramt fährt Reformkurs und Rürup ringt um Ruhe |
30.12.2002 00:00 Uhr |
von Thomas Bellartz, Berlin
Auch während der Weihnachtsferien und gleich zum Jahresbeginn bleibt die Gesundheitspolitik in den Schlagzeilen. Der Kanzler kündigte vor dem Jahreswechsel harte Reformen an, Kommissionschef Professor Dr. Bert Rürup wurde bissig und Ressortchefin Ulla Schmidt wird wieder einmal aus den eigenen Reihen von Vorschlägen überrascht. Was fehlt, ist die Linie.
Neben der Außen- und Wirtschaftspolitik sorgte die Gesundheits- und Sozialpolitik in Berlin seit der letzten Bundestagssitzung im Dezember für Wirbel. Täglich liefen neue Vorschläge, Konzepte und die Inhalte so manchen „Papiers“ über die Ticker der Nachrichtenagenturen. Den Startschuss für das muntere Treiben hatte das Kanzleramt zu verantworten. Mit einem Papier aus Schröders engster Umgebung, das den Kassen mehr Freiheiten bei der Tarifgestaltung einräumt, sorgte das Kanzleramt für Überraschung – auch bei Ministerin Ulla Schmidt. Gerhard Schröder dementierte nicht, wurde in den Tagen nach Weihnachten deutlicher denn je. In zahlreichen Interviews und Stellungnahmen zum Inhalt des Papiers ließ der Kanzler keinen Zweifel daran, dass es die kommenden Reformen in sich haben werden. Auch vor einer stärkeren Eigenbeteiligung der Patienten schreckt der Kanzler nicht mehr zurück. Sein Ziel: Die Lohnkosten müssen sinken.
SPD will schnelle Reformen
Die Parteilinke in der SPD witterte Verrat und wollte den Vorsitzenden auf der Klausur in Wiesbaden stellen. Doch der lässt sich nicht reinreden. Auch nicht von Schmidt oder seinem Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering. Beide versuchten in den vergangenen Tagen die Inhalte des Papiers zu relativieren. Doch der Kanzler will Reformen und zwar schnell. Nur über die inhaltliche Ausrichtung scheint die SPD - trotz Klausurtagung im wahlkämpfenden Hessen - uneins. Der Schein wird dennoch gewahrt.
Schmidt jedenfalls sieht in der SPD-Führung keinen Dissens um das weitere Vorgehen in der Gesundheitspolitik. Ein weiteres, am ersten Januarwochenende bekannt gewordenes Papier enthalte Vorschläge, «die wir seit Wochen diskutieren», sagte Schmidt am Montag. Schmidt: „Wir brauchen eine Gesundheitsreform, bei der Gesunde und Kranke gewinnen.“ Ob der Konflikt zwischen Kanzler und Schmidt wirklich ausgeräumt ist, darf bezweifelt werden.
Am Donnerstag trifft sich die Arbeitsgruppe Gesundheit der SPD-Fraktion im Bundestag. Dann sollen die Vorschläge besprochen werden. Es zeichnet sich ab, dass mit verschiedenen Maßnahmen die Qualität der Gesundheitsversorgung unter die Lupe genommen und verbessert werden soll. Ein noch zu gründendes Deutsches Institut für Qualität in der Medizin soll alle Arzneimittel und Behandlungsmethoden bewerten. Das zweite Papier prognostiziert angeblich Einsparungen in Höhe von mehr als 8 Milliarden Euro durch diese Maßnahme. Die Summe wurde aus dem Ministerium weder bestätigt noch dementiert. Mittlerweile will Schmidt ihre Eckpunkte für eine Gesundheitsreform schon Anfang Februar der Öffentlichkeit präsentieren.
Vorschläge ohne Unterlass
Bei ihren Planungen lässt Schmidt die Rürup-Kommission weiter links liegen. Die wird erst im Herbst ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit vorstellen. Zwischen Rürup und der Ministerin herrscht nicht das beste Einvernehmen. Der Darmstädter Ökonom rechnet trotz der Notgesetze zur Beitragsstabilisierung im laufenden Jahr mit einem erneuten Ansteigen der Krankenkassenbeiträge, falls die Konjunktur nicht anspringe. Zudem regte Rürup ebenso wie der CDU-Sozialpolitiker Hermann-Josef Arentz eine stärkere Finanzierung der Sozialversicherungen über Steuern an. Dies stieß auf die entschiedene Ablehnung von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD).
Rürup kann sich „gewisse Leistungsrücknahmen“ und einen Ausbau der privaten Vorsorge vorstellen. Neben Löhnen sollten „auch Vermögenseinkommen wie Zinsen oder Mieteinnahmen mit Sozialabgaben belegt oder der Versichertenkreis etwa auf Selbstständige oder Beamte ausgedehnt“ werden. Eine weitere Möglichkeit sei, im Gesundheitsbereich „statt der lohnabhängigen Krankenversicherungsbeiträge Kopfpauschalen zu erheben“. Grundsätzlich sollten die Sozial-Beiträge von den Arbeitskosten abgekoppelt werden. Rürup und andere Wissenschaftler fordern dies bereits seit Jahren.
Unterstützung findet der Kommissionschef bei den Grünen. Deren Bundesvorsitzender Reinhard Bütikofer will ebenfalls die Finanzierungsgrundlagen ausweiten. Bemerkenswerte Erkenntnis bei Bütikofer: Nicht die Kosten im Gesundheitswesen seien der Hauptgrund für die hohen Beiträge, sondern die Arbeitslosigkeit.
Aus der CDU kam erneut die Forderung, Krankenversicherungen über Zuschüsse aus den Tabak- und Alkoholsteuern zu entlasten. Zumindest die Hälfte dieser Beträge müsse an die Krankenversicherungen weitergeleitet werden.
Die Union sprach von einer „bitteren Blamage“ für die Gesundheitsministerin. Rürup habe klar gemacht, dass das zum Jahreswechsel in Kraft getretene Beitragssatzsicherungsgesetz die Beiträge nicht stoppe, sagte der CDU/CSU-Sozialexperte Andreas Storm.
Rürup kritisierte aber auch, es mangele „bei den Ärzten, Krankenhäusern und Apotheken aber auch bei den Kassen an Wettbewerb mit der Folge von Fehl- und auch Überversorgungen“. Daneben gebe es Ausgabensteigerungen, die keine Fehlentwicklung darstellten. „Das hängt mit der erfreulicherweise steigenden Lebenserwartung und dem medizinischen Fortschritt zusammen“, sagte Rürup. Man müsse fragen, „ob es Leistungen der Kassen gibt, die dort nicht unbedingt hingehören“. Diese müssten „kritisch überprüft und gegebenenfalls anders finanziert oder gestrichen werden“.
Maulkorb wirkt nicht
Während sich Rürup selbst zu den Reformmöglichkeiten äußerte, versuchte er verzweifelt, seinen Kommissionsmitgliedern einen Maulkorb aufzuerlegen. Dass sich Schmidt-Intimus Professor Dr. Karl Lauterbach davon wenig beeindrucken ließ, versteht sich fast von selbst. Doch besonders die Forderung des Freiburger Sozialexperten Professor Dr. Bernd Raffelhüschen nach einer jährlichen Selbstbeteiligung von bis zu 900 Euro sorgte für ebenso heftige Reaktionen wie seine Forderung, Zahnbehandlungen langfristig komplett aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen zu streichen. Die Union kündigte an, sich gegen die Ideen zu wehren. „Die Vorschläge schießen weit über das Ziel hinaus und sind daher mit der Union nicht zu machen“, sagte Storm. Auch Krankenkassen, Klinikärzte und Kommissionsmitglied Rosemarie Wilcken (SPD) lehnen den Vorschlag ab. Zustimmung kam von Arbeitgebern und der FDP. Das Gesundheitsministerium verweigerte jeden Kommentar zu den Vorstößen. Auch Raffelhüschens Kommissionskollege Professor Dr. Gert Wagner (TU Berlin) hält den Vorschlag für unausgegoren. Selbstbehalte würden chronisch Kranke benachteiligen, sagte der Sozialökonom. Der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen (BKK), Wolfgang Schmeinck, begrüßte zwar die Debatte über die Kassentarife. Die Forderung, die Zahnbehandlung ersatzlos aus dem Leistungskatalog zu streichen, gehe aber zu weit.
Schaich-Walch bleibt am Ball
Die SPD-Fraktionsvize im Bundestag, Gudrun Schaich-Walch, hat sich unterdessen für mehr Flexibilität bei den Leistungsangeboten der gesetzlichen Krankenkassen ausgesprochen. Diese sollen künftig auch medizinische Zusatzleistungen versichern können, die über die bisherige Grundversorgung hinausgehen, sagte sie. Dazu werde man den Kassen Möglichkeiten für Kooperationen mit privaten Versicherern geben.
Die Organisationsreform solle den Kassen mehr Spielraum im Wettbewerb einräumen, sagte Schaich-Walch. Die Gesundheits- und Sozialpolitikerin nannte als Beispiele private Sterbegeldversicherungen oder die Absicherung vor Krankheiten auf Auslandsreisen. Bisher sind solche Angebote den gesetzlichen Kassen verwehrt. Auch diese Pläne seien Teil der für dieses Jahr vorgesehenen Gesundheitsreform.
Nebenbei betonte die frühere Gesundheits-Staatssekretärin, dass man den
Arzneimittelbereich liberalisieren wolle. Konkreter wurde Schaich-Walch,
deren Vorliebe für den Versandhandel mit Arzneimitteln allerdings bekannt
ist, nicht.
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