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Politik 1

10.12.2001  00:00 Uhr
SACHVERSTÄNDIGENRAT

Evolution des Fremd- und Mehrbesitzes

Reaktionen: Wenig Lob und viel Tadel

von Thomas Bellartz, Berlin

Die vergangene Woche hatte es in sich. Besonders der Freitag. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen stellte seine Vorschläge für mehr Effizienz und Effektivität in der Arzneimittelversorgung vor. Die vermeintlich nüchternen Anmerkungen der Experten stürzen die Apothekerschaft in ein Wechselbad der Gefühle.

Die Sachverständigen befürworten eine Einführung des Versandhandels in Deutschland unter der Voraussetzung mengen- und nicht preisabhängiger Apothekenzuschläge. Professor Dr. Eberhard Wille befürchtet als stellvertretender Vorsitzender des Rates, dass der Europäische Gerichtshof "ohnehin 2003 für eine Einführung des Versandhandels votieren" werde. Er riet den Standesorganisationen, "ihre Mitglieder auf diese Situation vorzubereiten".

Mit dem Fall des Fremd- und Mehrbesitzverbots habe man sich zwar diesmal nicht beschäftigt, wie Wille darstellte. Aber das sei ohnehin nur der nächste Schritt einer evolutionäre Fortschreibung der Vorschläge. Man wolle dies der ohnehin schon von den Sachverständigen gebeutelten Zielgruppe, womit er die Apothekerschaft meinte, nicht zusätzlich zumuten.

Generika-Anteil ausbauen

"Relevante Effizienzpotenziale" recherchierten die Sachverständigen, deren Addendum zum Gutachten "Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit" von Wille und Professor Dr. Karl Lauterbach im Beisein von Bundesministerin Ulla Schmidt vorgestellt wurde, besonders im generikafähigen Markt sowie bei den Me-too-Präparaten. Bei den Generika könne man den Marktanteil von 72 Prozent der Verordnungen um weitere 10 Prozent steigern und damit 1 Milliarde DM in die Kassen der GKV spülen.

Die Kritik aus der Industrie an den aktuellen Plänen des Gesundheitsministeriums sowie an den Vorschlägen des Rates sind für Wille kein Thema. Natürlich seien die 120.000 Arbeitsplätze in der Pharmaindustrie ein enorm wichtiger Faktor. Aber dies dürfe nicht als Begründung dafür herhalten, dass die GKV überhöhte Preise für Arzneimittel zahle.

Aut idem

Explizit verwies der Sachverständigenrat auf die Rationalisierungschancen bei einer Umkehr des bisherigen Regel-Ausnahme-Verhältnisses bei der Aut-idem-Regel. Der Rat betonte, dass diese Umkehr nicht in die Therapiefreiheit des Arztes eingreife, da dieser Aut idem ausschließen könne. Eine verstärkte öffentliche Aufklärung könne die Akzeptanz der Regelung bei den Patienten verbessern.

Die Arzneimittelauswahl durch den Apotheker werde nach Ansicht der Sachverständigen nur dann auch einen nennenswerten ökonomischen Erfolg haben, wenn die Regierung Aut idem nicht mit einer Reihe von Ausnahmen beschneidet.

Apothekenabgabepreise

Wenn Aut idem Eingeführt würde, müsste man parallel die derzeitige prozentuale Apothekenspanne in einen preisunabhängigen Aufschlag umwandeln oder die Arzneimittepreisverordnung aufkommensneutral ändern. Dies würde teure Arzneimittel verbilligen, gleichzeitig preiswerte Arzneimittel verteuern, erläutere Wille. Für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wäre dies eine Entlastung, da vor allem niedrigpreisige Arzneimittel vom Patienten direkt bezahlt werden.

Der Rat sieht hierin den Abbau einer Subventionierung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel. Da eine solche Regelung auch Einfluss auf die Preisbildung bei den Herstellern habe, könne man mit Einsparungen von bis zu 1 Milliarde DM rechnen.

Zuzahlung

Die derzeitige Zuzahlungspraxis ist für die Patienten nach Expertensicht "kein Anreiz" ein günstiges Präparat zu beziehen. Schmidt reagierte auf die Einlassungen Willes und kündigte an, die Differenzen zwischen den einzelnen Stufen der Zuzahlungen zu wollen. Den Patienten müsse klar werden, dass eine größere Packung auch höhere Kosten erzeuge.

Preisbindung

Aufheben will der Sachverständigenrat die Preisbindung der zweiten Hand für nicht verschreibungspflichtige Präparate. Für die "Unterbindung jedes Preiswettbewerbs zwischen Apotheken" gebe es keine medizinischen, sozialen oder ökonomischen Gründe. Wille erlaubte sich den Vergleich des Arzneimittels mit Schokolade. Nachdem die Preisbindung gefallen sei, habe Schokolade nur noch die Hälfte gekostet. Allerdings blieb Wille die Erklärung schuldig, wie er zu einem Vergleich zwischen dem Genuss von Schokolade und der Einnahme von Arzneimitteln kommt. Diese Maßnahme würde den Preiswettbewerb bis zum Hersteller fördern, und eine weitere Milliarde ersparen.

Zulassungshürde

Eine vierte Hürde für die Zulassung zum GKV-Markt soll in Zukunft die Kosten-Effektivitäts-Analyse sein. Glaubt man den Sachverständigen, dann ist eine unabhängige Institution die richtige Instanz, um dem kostentreibenden Effekten von geringfügigen oder "Pseudo-Innovationen" entgegen treten zu können. Diese vierte Hürde soll die Prüfungen zu Unbedenklichkeit, Qualität und Wirksamkeit ergänzen. Nicht nur der Rat, sondern auch Ministerin Schmidt versprechen sich von einer solchen Regelung eine starke Entlastung der GKV. Zudem erhoffen sie sich, dass die Pharmaindustrie ihre Forschungsaktivitäten dann auf therapeutisch relevante Fragestellungen konzentriere.

Mehrwertsteuer

Nicht neu: Der Rat forderte die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes auf Arzneimittel. Doch dies sei angesichts der ablehnenden Haltung des Finanzministers derzeit nicht durchsetzbar.

Umstrittene Arzneimittel

Bei der Stärkung der Effektivität in der Arzneimittelversorgung haben die Sachverständigen mehrere Ziele ins Visier genommen. So gebe es bei den umstrittenen Arzneimitteln Einsparpotenziale von rund 2,6 Milliarden DM, umstrittene Präparate für weitere 1,3 Milliarden DM könnten durch wirksamere ersetzt werden.

"Vorsichtige Ausweitungen" empfehlen die Sachverständigen beim Dispensierrecht für Ärzte. Dabei stünden allerdings nicht die recht geringen Einsparmöglichkeiten, sondern die Verbesserungen der Versorgung im Blickpunkt.

Ein weiterer Schwerpunkt des Gutachtens war die Verbesserung der Compliance. Die Sachverständigen kritisierten die mangelnden pharmakologischen Kenntnisse vieler verordnender Ärzte. Hier müsse verstärkt angesetzt werden, auch unter Einbeziehung der Apotheker.

Das vollständige Gutachten des Sachverständigenrates finden Sie unter www.svr-gesundheit.de.

 

Reaktionen: Wenig Lob und viel Tadel Daniel Rücker, Eschborn  Apotheker, Industrie und Oppositionspolitiker sehen die Vorschläge des Sachverständigenrates mit erheblicher Skepsis. Einige Punkte finden aber auch Zustimmung: "Wir sagen ja - auch zu mutigen Schritten - bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Doch radikale Wettbewerbsmechanismen würden das Gesundheitswesen in die Versorgungs- und Kostenkatastrophe führen", kommentierte ABDA-Präsident Hans-Günter Friese, das Sondergutachten des Sachverständigenrates. "Die Weisen greifen zwar wichtige Problempunkte auf, finden aber nicht immer die richtigen Lösungen."

Friese bezweifelt, dass eine marktorientierte Arzneimittelversorgungssysteme kostengünstiger sei als das deutsche System. "Wir reden die aktuellen Probleme der Arzneimittelausgabenentwicklung nicht klein," sagte Friese, "es kann aber nicht ignoriert werden, dass beispielsweise in den USA, wo Ketten- und Versandapotheken erlaubt sind und die Arzneimittelpreise völlig dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden, die Pro-Kopf-Arzneimittelausgaben doppelt so hoch wie in Deutschland sind und auch mit erheblich höheren Wachstumsraten steigen."

Die ABDA warnt davor, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel aus der Arzneimittelpreisverordnung herauszunehmen. Der einheitliche Apothekenabgabepreis für Arzneimittel sei aus gesundheitspolitischen Gründen und wegen des Verbraucherschutzes vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollt.

Auch am Versandhandelsverbot dürfte in keinem Fall gerüttelt werden. Der Verzicht auf die fachliche Beratung bei der Arzneimittelabgabe berge erhebliche Risiken, die zu hohen Kosten führen könnten. Anstelle der generellen Zulassung des Versandhandels schlagen die Apotheker vor, die bestehenden Regelungen zum Botendienst in begründeten Einzelfällen zu ergänzen: Wenn der Patient ein über Internet oder Telefon bestelltes Arzneimittel nicht selbst abholen könne, dürfe das Präparat auch vom pharmazeutischen Personal der Apotheke zugestellt werden. Damit würde vermieden, dass die Beratung durch den Apotheker zu einer Holschuld des Patienten degeneriert.

Fundamentale Bedenken hat die ABDA auch gegen die partielle Erweiterung des Dispensierrechtes für Ärzte. Alle Gesundheitssysteme, in denen Ärzte Arzneimittel an Patienten abgeben dürfen, seien deutlich teurer als das deutsche.

Auch positive Aspekte

Als interessanten Diskussionsansatz bezeichnet die ABDA dagegen de aufkommensneutrale Änderung der Apothekervergütung. Hier hätten die Apotheker in der Vergangenheit bereits Vorschläge gemacht, die zu einer deutlichen Entlastung der Krankenkassen führen würden.

Ebenso begrüßen die Apotheker die Vorschläge des Rates zur Erleichterung der Aut-idem-Abgabe und zur Senkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel. Einverstanden ist die ABDA auch mit den Vorschläge zu einer effektiveren Pharmakotherapie. Vor allem die Förderung der Patienten-Compliance und die Integration der Arzneimitteltherapie in evidenzbasierte Behandlungsleitlinien, werden begrüßt. Hierzu könne die von der ABDA entwickelte elektronische Patientenchipkarte wertvolle Beiträge leisten.

VFA für mehr Wettbewerb

Auch der Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) spart nicht mit Kritik. Im Gegensatz zu den Apothekern geht ihm die wettbewerbliche Ausrichtung der Vorschläge aber nicht weit genug. "Das Gutachten der Sachverständigen macht den Wirrwarr von Konzepten und Grundsatzerklärungen dieser Woche komplett", erklärte die VFA-Hauptgeschäftsführerin Cornelia Yzer. "Während sich Wirtschaftsminister Müller zum wiederholten Male öffentlich für mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen ausgesprochen hat, bringen weder die Gesundheitsministerin noch die von ihr herangezogenen Gutachter den Mut für eine konsequente Reform in Richtung Wettbewerb auf", kritisierte Yzer.

Eine marktwirtschaftliche Grundsanierung des Gesundheitssystems sei längst überfällig. Der Sachverständigenrat bleibe stattdessen auf halben Wege stehen. "Markt nur da, wo es gerade mal passt, kann nicht funktionieren." Die VFA-Hauptgeschäftsführerin bezeichnete die Empfehlungen des Sachverständigenrates als halbherzig. Während auf der einen Seite Regulierungen abgebaut werden sollen, wolle der Sachverständigenrat in anderen Bereichen zusätzliche Hürden aufbauen.

Die anderen Pharmaverbände konzentrieren sich vor allem auf die Aussagen zur Aut-idem-Regelung. Allerdings mit recht unterschiedlichen Interpretationen. So sieht sich der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) darin bestätigt, dass eine Aut-idem-Regelung unter den derzeit geltenden Voraussetzungen unsinnig sei. Das Gutachten bestätige, dass "Apotheker kein Interesse an der Abgabe preiswerter Arzneimittel" habe. Die Im Gutachten werde auch die Gefahr einer Rabattschlacht erkannt.

Im Gegensatz zum BPI hält der Deutsche Generikaverband das Sachverständigengutachten für "wissenschaftlich fragwürdig". Dem Verband fehlt die "inhaltliche Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten zu Aut idem". Generika seien Problemlöser im Gesundheitswesen. Wer die Kosten reduzieren wolle, müsse die generische Industrie stützen.

Keine Schnellschüsse

Der baden-württembergische Sozialminister Friedhelm Repnik (CDU) hat die Bundesregierung vor Schnellschüssen in der Arzneimittelversorgung gewarnt. Die angekündigte Lockerung des Versandhandelsverbots von Arzneimitteln könne die Medikamentensicherheit gefährden. Die Beratung der Patienten durch den Apotheker bleibe gänzlich auf der Strecke. Da nicht alle Medikamente profitabel zu versenden seien, drohe Rosinenpickerei, sagte Repnik. Dies gefährde letztlich eine flächendeckende Vor-Ort-Versorgung und die damit verbundene hohe Versorgungssicherheit zu allen Tages- und Nachtzeiten. Für die baden-württembergische Bevölkerung könnten vor allem in ländlichen Regionen Versorgungslücken entstehen.

Die Schuld an den steigenden Arzneimittelausgaben gibt Repnik in erster Linie der Regierung selbst. "Die bloße Ankündigung, dass die Budgets in der Arzneimittelversorgung aufgehoben werden, hat einen Kostenschub ausgelöst", sagte er. Die Arzneimittelkosten seien in den ersten neun Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um mehr als elf Prozent gestiegen. "Mit intelligenten Lösungen wie etwa facharztspezifisch ausgestalteten Richtgrößen wäre ein so enormer Kostenanstieg vermeidbar gewesen", betonte Repnik.

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