Synonym für einen Kompromiss |
07.04.2003 00:00 Uhr |
Nicht nur als „Tor zu Loreley und Lahn“, wie der Touristenführer wirbt, ist die rheinland-pfälzische Kleinstadt Lahnstein bekannt. Zumindest in der Gesundheitspolitik gewann sie 1992 den Nimbus eines ganz außergewöhnlichen Ortes. Der Name steht bis heute für einen seltenen Konsens zwischen Regierung und Opposition.
In Lahnstein kam innerhalb weniger Monate ein großer politischer Kompromiss zwischen dem damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) und Rudolf Dreßler (SPD) zustande, der innerhalb von sechs Monaten Bundestag und Bundesrat passierte: Das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 1.Januar 1993, auch „Lahnstein-Kompromiss“ genannt, wurde später oft als einschneidendste Reform im Gesundheitswesen seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet.
Gesundheitsreformen hatte es schon 1977 – das erste Kostendämpfungsgesetz – und 1989 – das Gesundheitsreformgesetz (GRG) – gegeben. Dabei ging es im Kern um die weit reichende Einführung von Selbstbeteiligungen, Erstattungsobergrenzen für Arzneimittel und Leistungsreduzierungen. Die Apothekerschaft traf eine Senkung der Arzneimittelausgaben, obwohl deren Anteil am Gesamtbudget nur rund 15 Prozent betrug und seit 1970 nicht überdurchschnittlich zugenommen hatte.
Langfristig stiegen die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aber trotz dieser beiden Reformen ebenso wie die Beiträge der Versicherten, welche 1989 bei etwa 13 Prozent lagen.
Anfang 1992 warnten deshalb Prognosen vor einem Rekorddefizit der Gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 9 Milliarden DM. Dies erhöhte den politischen Druck, über neue massive Sparmaßnahmen nachzudenken. Auch damals galt es, Rekordbeitragssätze der Versicherten zu vermeiden. Der Anstieg der Lohnnebenkosten hätte negative Auswirkungen auf die Beschäftigungslage gehabt.
Der Lahnstein-Kompromiss
In dieser prekären Lage vereinbarten Regierung und Opposition ein gemeinsames Vorgehen, um den weiteren Anstieg der Gesundheitsausgaben zu bremsen. Die Verhandlungen zwischen Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer, CSU, und dem Verhandlungsführer der SPD, Rudolf Dreßler, fanden in Lahnstein statt. Die politischen Parteien verständigten sich erstaunlich schnell im so genannten Lahnstein-Kompromiss und es entstand das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG), welches am 1. Januar 1993 in Kraft trat. Seehofer postulierte, mit Lahnstein müsse das Verhältnis von Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität neu definiert werden.
Die Zielsetzung des Lahnstein-Kompromisses war es, einerseits die Gesundheitsversorgung durch größere Wahlfreiheit zu verbessern und andererseits höhere Beitragsgerechtigkeit und mehr Wirtschaftlichkeit durch stärkeren Wettbewerb zu ermöglichen. Gleichzeitig folgte das neue Gesetz dem Grundgedanken der totalen Budgetierung aller Leistungsbereiche und der Verwaltungsausgaben.
Als Erstes wurden die freien Kassenwahlrechte für alle Versicherten mit Wirkung ab 1997 eingeführt. Berufsständische Zulassungsbeschränkungen wurden mehrheitlich abgeschafft und neue Kündigungsrechte installiert.
Zu den kostendämpfenden Sofortmaßnahmen des neuen Gesetzes zählte eine zeitlich begrenzte Grundlohnorientierung, das Arzneimittelbudget, ein Preismoratorium sowie strukturverändernde Maßnahmen. Letztere kamen in der Organisationsreform, der Neuregelung der kassenärztlichen Versorgung und der Krankenhausreform zum Ausdruck.
Voraussetzung für einen gerechten Wettbewerb zwischen den Krankenkassen war die Einführung des Risikostrukturausgleiches. Durch diesen finanziellen Ausgleich der Kassen untereinander wollte der Gesundheitsminister das solidarische Versicherungsprinzip erhalten.
Auswirkungen auf die Apothekerschaft
Bei den Apothekern stieß der Kompromiss auf wenig Gegenliebe. Der damals amtierende ABDA-Präsident Klaus Stürzbecher bezeichnete das neue Gesetz am 26. April 1993 wortstark als „Apothekenkiller“. Die Apotheker waren wegen der arzneimittelrelevanten Maßnahmen des GSG besonders stark betroffen. Zwar richtete sich das Arzneimittelbudget in erster Instanz an andere Leistungserbringer, es wirkte sich aber negativ direkt auf die wirtschaftliche Lage der Apotheken aus. So wurden beispielsweise den Ärzten Arzneimittelbudgets auf dem Niveau von 1991 vorgegeben, was unmittelbar erhebliche Einkommenseinbußen für die Apotheken mit sich brachte.
Zur Zeit des In-Kraft-Tretens des GSG waren bereits 40 Prozent des Arzneimittelmarktes der Festbetragsregelung unterworfen. Nun wurde bis Ende 1994 ein „Preismoratorium“ festgelegt, bestehend aus Preisabsenkungen und Preisstopps. Über die Arzneimittelpreisverordnung reduzierten diese an die Industrie gerichteten Regelungen direkt auch die Apothekenverkaufspreise – nicht nur für den Bereich der GKV, sondern ebenfalls für den Gesamtmarkt einschließlich Selbstmedikation und privater Krankenversicherung.
Die Preisabsenkungen implizierten zugleich einen Warenlagerwertverlust für die Apotheken zum 1.Januar 1993. Auch die Erhöhung der prozentualen Selbstbeteiligung der Versicherten ließ die Apotheker befürchten, dass es auch dadurch zu Mindereinnahmen kommen könnte.
Gleichzeitig sollten alle Arzneimittelkennzeichen künftig auf jedes Rezeptblatt in den Apotheken unentgeltlich aufgetragen werden, was hier Personalkosten verursachte, wie auch Kosten zur Anschaffung eines entsprechenden technischen Gerätes. Noch immer hatten die Apotheken sich auch mit Einkommenseinbußen durch die Einführung einer gesetzlichen Negativliste von Medikamenten aus dem Jahre 1990 auseinander zu setzen. Auf der Liste standen etwa 400 Medikamente, welche Wirkstoffe enthalten, deren Kosten nicht von der GKV übernommen werden.
Auf wenig Gegenliebe bei den Apothekern stieß auch die von der SPD in die Verhandlungen eingebrachte Positivliste und die von Beginn an umstrittene Importförderklause. Bei beiden Regelungen war es weniger die Sorge um Umsatzeinbußen, sondern die Angst vor einer weiteren Bürokratisierung der Arzneimittelversorgung durch neue Vorschriften und Quoten.
Des Weiteren kam es mit dem GSG zu einer Neuregelung der kassenärztlichen Versorgung, von deren Auswirkungen die Apothekerschaft ebenfalls betroffen war. Dem enormen Anstieg der Arztdichte, speziell aber auch dem der kostenintensiveren Fachärzte sollte Einhalt geboten werden. So sollte einer Leistungsausweitung und damit steigenden Ausgaben für die ärztliche Versorgung entgegengewirkt werden. Die Einführung von Praxisbudgets, Zulassungsbeschränkungen für Ärzte sowie monetäre Anreize für einige Fachärzte, sich auch als Hausarzt zu betätigen, sollten Abhilfe schaffen.
Modernisierung des Krankenhaussektors
Der Krankenhaussektor war im Gesundheitsreformgesetz 1989 nicht berücksichtigt worden. Mit einem Anteil von 32 Prozent an den Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung im Jahre 1992 galt er jedoch als größter Ausgabenposten und bot das größte Einsparungspotenzial. Die bisher eher wie Behörden geführten Krankenhäuser sollten sich zu modernen gewinnorientierten Dienstleistungsunternehmen wandeln. Es wurde angestrebt, den bisherigen Kostenbegründungswettbewerb durch einen Leistungswettbewerb mit der Einführung neuer Entgeltungsformen zu ersetzen, wobei das bisherige Selbstkostendeckungsprinzip mit pauschalierten Pflegesätzen ab 1.Januar 1996 entfallen sollte. Außerdem erlaubte die Einführung neuer Behandlungsformen eine Integration der Krankenhäuser in die ambulante Versorgung.
Wirtschaftlicher Erfolg des GSG
Betrachtet man die Entwicklung der Einnahmen, Ausgaben und allgemeinen Beitragssätze der GKV von den Jahren 1991 bis 1995, so wird deutlich, dass sich zunächst nach dem Defizit von 5 Milliarden DM im Jahre 1991 beziehungsweise 9 Milliarden DM 1992 das Ergebnis nach Einführung der GSG 1993 sehr erfreulich entwickelte.
Im ersten Jahr der Anwendung des Gesundheitsreformgesetzes konnte die GKV ein Plus von 9 Milliarden DM vorweisen, allerdings bei einem gestiegenen Beitragssatz von 12,7 (1992) auf 13,4 Prozent. Auch im Jahre 1994 wurden noch 2 Milliarden DM erwirtschaftet, während der Beitragssatz auf 13,2 Prozent fiel.
Leider entpuppte sich die Kostendämpfung als Strohfeuer. Bereits zwei Jahre nach der Einführung des GSG, im Jahre 1995, lag das Defizit der GKV wieder bei 5,1 Milliarden DM.
Hinzu kommt, dass einige Punkte des Kompromisses zumindest in jener Legislaturperiode überhaupt nicht umgesetzt wurden. So konnte die Industrie, zum Teil mit der Unterstützung der Apotheker, vor allem die Regierung vom zweifelhaften Nutzen einer Positivliste überzeugen. Unter heftigem Protest der SPD rückten Unionspolitiker immer weiter von diesem Vorhaben ab.
Ähnliches widerfuhr der Importförderklausel. Auch hier konnte die pharmazeutische Industrie die Union davon überzeugen, dass die bevorzugte Abgabe importierter Arzneimittel nicht im Sinne des Wirtschaftsstandortes Deutschland sein kann. Schließlich strich Seehofer die erst kurz zuvor erlassene Regelung wieder aus dem Gesetz.
Beide Vorschläge wurden nach dem Regierungswechsel 1998 wieder aus der Schublade gezerrt. Als Regierungspartei sah die SPD neue Chancen, die Regelungen umzusetzen. Bei der Importquote gelang dies auch. Zum Leidwesen der Apotheker müssen sie seitdem einen Mindestanteil Importe abgeben. Weitaus schwieriger gestaltet sich die Einführung der Positivliste. Zwar glaubt die Regierung weiterhin an ihren Nutzen. Eine rechtssichere Umsetzung des Vorhabens gestaltet sich jedoch schwierig.
Es bleibt eine gemischte Bilanz. Zwar wird der „Lahnstein-Kompromiss“
heute noch immer gern zitiert. Er steht für den politischen Willen, sachlich
und effizient Reformen anzustreben, relativ unabhängig von parteipolitischen
Sachzwängen und „Scheuklappen“, welche im politischen Alltag oftmals den Weg
zum sinnvollen Kompromiss verbauen. Sein wirtschaftlicher Erfolg war jedoch
zeitlich kurz befristet. Eine nachhaltige Senkung der Gesundheitsausgaben
hat Lahnstein nicht erreicht.
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