Der Ausverkauf hat begonnen |
27.01.2003 00:00 Uhr |
von Daniel Rücker, Stuttgart
Apothekern, Ärzten und den Angehörigen der Pflegeberufe platzt der Kragen. Nullrunden und Zwangsrabatte gefährden mittelständische Existenzen und zerstören Arbeitsplätze. In fünf Landeshauptstädten protestierten die Heilberufler am 22. Januar gegen das Beitragssatzsicherungsgesetz. Die größte Veranstaltung des bundesweiten Aktionstages „Ausverkauf des Gesundheitswesens“ fand mit 1400 Teilnehmern in Stuttgart statt.
Ärzte und Apotheker befürchten, dass die radikalen Sparpläne die Gesundheitsversorgung ernsthaft gefährden. „Der Ausverkauf des Gesundheitswesens steht nicht bevor, er hat bereits begonnen,“ stellte der Präsident des Landesapothekerverbandes Baden-Württemberg, Fritz Becker, auf der Kundgebung in Stuttgart fest. Verband und Landesapothekerkammer hatten neben zahlreichen Ärzteverbänden zur Veranstaltung im Hospitalhof eingeladen.
Die Apotheker seien vom Beitragssatzsicherungsgesetz mit am stärksten betroffen, stellte Becker fest. „Von Nullrunde kann bei uns keine Rede sein, wir fahren eine desaströse Minusrunde.“ Das Gesetz lasse den durchschnittlichen Rabatt, den Apotheken den Krankenkassen gewähren müssen, auf 8,2 Prozent steigen. Hinzu kommen 3 Prozent, die der Großhandel auf die Apotheker abwälzt. Am Ende trügen die Apotheker 70 Prozent der geplanten Einsparungen von 1,4 Milliarden Euro. Dies bedeutet eine Rabatterhöhung von 61.000 Euro je Apotheke. „Jeder kann sich leicht ausrechnen, dass eine solche Summe von keiner einzigen Apotheke aufgebracht werden kann, ohne dass dies unmittelbare Konsequenzen hat.“
Becker machte deutlich, dass dies keine Prognosen sind, es ist die Realität: „In den vergangenen acht Wochen haben 44 Apotheken in Baden-Württemberg den Betrieb eingestellt. Der Tod einer qualifizierten Arzneimittelversorgung ist eingeläutet.“ Grund für die Apothekenpleiten sei nicht schlechtes Management, sondern eine „planwirtschaftliche, unausgegorene, perspektivenlose und krankenkassenhörige Politik.“
Sorge bereitet Becker auch die erwartete Strukturreform aus dem Bundesgesundheitsministerium. Auch wenn Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD) noch keine Details veröffentlicht hat, zeichnet sich hier weiterer Ungemach für die Apothekerschaft ab. Die Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes, die Zulassung von Versandhandel und das Recht der Krankenkassen, Einzelverträge mit Ärzten und Apothekern zu schließen, würden den Berufsstand in seiner Existenz gefährden, so der Verbandspräsident. Er forderte Apotheker, Ärzte und alle anderen im Bündnis Gesundheit zusammengeschlossenen Heilberufler auf, gemeinsam gegen die Pläne der Bundesregierung und „für eine zukunftsträchtige Entwicklung des Gesundheitssystems“ zu kämpfen.
Ärzte klagen über Diffamierung
Heftige Kritik an der Bundesregierung übte auch der Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg, Professor Dr. Friedrich-Wilhelm Kolkmann. Die Nullrunde gefährde bis zu 40.000 Arbeitsplätze im baden-württembergischen Gesundheitswesen, so seine Prognose. Niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser seien gleichermaßen gezwungen, Angestellte zu entlassen. Leidtragende seien in erster Linie die Patienten, die in Zukunft schlechter versorgt würden.
Auf Kritik der Ärzteschaft reagiere Bundesgesundheitsministerin Schmidt mit Diffamierung der Ärzteschaft. Ihnen werde im großen Stil Abrechnungsbetrug, Behandlungsfehler und Bestechlichkeit unterstellt. Die Medien griffen solche Berichte gerne auf. Die Regierung wolle so von den Finanzierungsproblemen ablenken und der Öffentlichkeit einreden, dass mangelnde Wirtschaftlichkeit und schlechte Qualität die Grundübel der ärztlichen Versorgung seien.
Ebenso wie Dr. Werner Baumgärtner, Vorsitzender der Vertragsärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg, macht Kolkmann seinem Ärger über den Schmidt-Berater Professor Dr. Karl Lauterbach Luft. Dieser kolportiere nachweislich falsche Zahlen über die vermeintlich zu hohe Mortalität verschiedener Krebserkrankungen in Deutschland.
Baumgärtner und Kolkmann forderten unisono eine Gesundheitsreform, die den Ärzten wieder Zeit und Mittel gebe, sich um ihre Patienten zu kümmern. Statt immer mehr Leitlinien, sollte die individuelle Behandlung im Vordergrund stehen. Auch für die Ärzte im Krankenhaus forderte der Kammerchef bessere Arbeitsbedingungen. Die flächendeckende Einführung des neuen Abrechnungssystems in Kliniken nannte er „überstürzt“.
Baumgärtner hat kein Verständnis für Schmidts Vorhaben, Klinikärzte stärker in die ambulante Versorgung einzubeziehen. Es entstünde dann ein ungleicher Wettbewerb zwischen niedergelassenen Fachärzten und Medizinern aus dual finanzierten Institutionen, den die niedergelassenen Kollegen nicht gewinnen könnten.
Proteste gehen weiter
Veranstaltungen zum Aktionstag fanden auch in Rostock und Potsdam, Hannover und Bremen statt. Aus Protest gegen die rot-grüne Reformpläne ließen laut Standesvertretern am Mittwoch rund 6000 der 120.000 Kassenärzte ihre Praxen geschlossen. Betroffen waren der Bezirk Westfalen-Lippe und in geringerem Umfang auch Baden-Württemberg und Brandenburg. Standesvertreter der Ärzteschaft betonten, dass in den betroffenen Regionen Notdienste die Dienstbereitschaft aufrecht hielten. Die Aktionen wurden von den Veranstaltern als Fortbildungsveranstaltungen tituliert, um Ärzten durch die Teilnahme bedingte Schwierigkeiten zu ersparen.
In dieser Woche werden die Aktionen auf Berlin, Hessen und Niedersachsen ausgeweitet. Hochburg ist Berlin, wo seit dem 29. Januar jeweils 20 Prozent der rund 6500 Praxen von Kassenärzten tageweise geschlossen bleiben.
Aufruf zur Denunzierung
Das Bundesgesundheitsministerium hält die Praxisschließungen für rechtswidrig. Auch die Krankenkassen verurteilten die Aktionen und drohten streikenden Ärzten mit Strafmaßnahmen bis hin zum Entzug der Kassenzulassung. Ministerium und Kassen riefen Patienten dazu auf, streikende Ärzte zu denunzieren. Nach Angaben der nordrhein-westfälischen Kassen gab es am vergangen Mittwoch allerdings wenig Beschwerden von Patienten. Gewerkschaften und die Verbraucherinitiative warfen den Ärzten vor, Patienten als Geiseln im Streit mit der Politik zu nehmen. Der DGB sprach von einer „empörenden Hetzkampagne“.
Dagegen äußerten Union und FDP Verständnis. „So wie im letzten Jahr kann
es im deutschen Gesundheitswesen nicht weitergehen“, sagte
Unions-Sozialexperte Horst Seehofer (CSU). Er forderte Schmidt erneut auf,
ein Gesamtkonzept für eine Gesundheitsreform auf den Tisch zu legen.
Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe verteidigte die Aktionen. „Wir
informieren und protestieren, weil wir nicht länger zusehen wollen, wie die
Gesundheitsversorgung kaputt gespart wird.“ Der FDP-Gesundheitsexperte
Dieter Thomae nannte die Klagen der Ärzte berechtigt: „Die
Arbeitsbedingungen für die Ärztinnen und Ärzte werden immer schlechter.“
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