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Progression lässt sich nicht stoppen

07.10.2002  00:00 Uhr
Pharmacon Mallorca

Progression lässt sich nicht stoppen

Rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Demenz. Mit einem Anteil von 50 bis 60 Prozent steht dabei Morbus Alzheimer im Vordergrund. Die Möglichkeiten, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen, sind nach wie vor begrenzt, doch zum therapeutischen Nihilismus besteht nach Einschätzung von Professor Dr. Josef Krieglstein von der Universität Marburg kein Anlass.

Die Abgrenzung der Alzheimer-Demenz von der zweithäufigsten Form, der vaskulären Demenz, ist nicht ganz einfach, zudem gibt es Mischformen, die rund 10 Prozent der Fälle ausmachen. Charakteristisch für Alzheimer ist der schleichende Beginn und fehlende vaskuläre Erkrankungen. Die vaskuläre Demenz beginnt nach Krieglsteins Ausführungen mit einem heftigeren Schub.

Auf zellulärer Ebene ist Morbus Alzheimer durch eine gestörte Calcium-Homöostase, die Bildung von b-Amyloid und tau-Tangles, einem Defizit von Wachstumsfaktoren und Neurotransmittern sowie Entzündungsreaktionen gekennzeichnet. Heute eingesetzte Arzneimittel greifen an verschiedenen Defekten an. Trotz erheblicher wissenschaftlicher Anstrengungen liegt aber ein wirklicher therapeutischer Durchbruch in weiter Ferne.

Die älteste Gruppe der eingesetzten Substanzen sind die Antidementiva. Ihnen bescheinigt Krieglstein eine geringe bis mäßige Wirksamkeit. Substanzen wie Piracetam und Pyritinol, Dihydroergotamin oder Nicergolin seien bei leichten und mittelschweren Demenzen klinisch nur bedingt erfolgreich. Sie verbessern den cerebralen Stoffwechsel und den Blutfluss. Der genaue Wirkmechanismus ist nicht vollständig aufgeklärt. Schwierigkeiten bei der Therapie bereitet auch die hohe Rate von Non-Respondern. Nach Krieglsteins Angaben liegt sie um die 30 Prozent.

Eine signifikante Verbesserung der Symptomatik von Alzheimer-Patienten lässt sich mit Ginkgo-biloba-Extrakt erzielen. Dieser verbessert ebenfalls die Hirndurchblutung und fängt freie Sauerstoffradikale. Auch im Tierversuch gibt es Hinweise auf die Wirkung von Ginkgo-Extrakt. In Versuchen mit Ratten, die in einer Kammer mit extrem niedrigen Luftdruck gesetzt wurden, verhinderte der Extrakt eine hypobare Hypoxie. Die Ratten konnten bis zu sechsmal länger ohne Folgen für den cerebralen Glucose-Stoffwechsel in den Niederdruckkammern bleiben als ihre nicht behandelten Artgenossen. Ginkgo verbesserte die Durchblutung des Gehirns um den Faktor zwei. Der Auszug ist wie die meisten anderen Alzheimer-Therapeutika ausschließlich für die Therapie leichter bis mittelschwerer Demenzen geeignet. Der Wirkmechanismus ist laut Krieglstein unbekannt.

Rationaler Ansatz

Während die antidementive Wirkung der oben genannten Substanzen eher zufällig entdeckt wurde, verfolgen die neueren Präparate einen rationalen Ansatz. So sollen Calcium- und NMDA-Antagonisten den übermäßigen Einstrom von Calciumionen in die Neuronen verhindern. Im gesunden Zustand liegt die intrazelluläre Calciumkonzentration um das Tausendfache niedriger als die extrazelluläre. Reguliert wird die Homöostase unter anderem über einen spannungsabhängigen, ATP-verbrauchenden Calciumkanal vom L-Typ und einem vom NMDA-Rezeptor gesteuerten Kanal.

Ist das Neuron geschädigt, versagt die Kontrolle, und über die beiden Kanaltypen strömt Calcium ins Innere. Die intrazelluläre Calciumkonzentration kann dadurch um das Hundertfache ansteigen, was den Zellstoffwechsel erheblich verändert. Apoptotische oder nekrotische Prozesse lassen das Neuron absterben. Der Calciumantagonist Nimodipin kann den unkontrollierten Einstrom von Calciumionen durch die Blockade des spannungsabhängigen Kanals reduzieren. Bei Patienten mit leichter und mittelschwerer Demenz verbessert er signifikant die Symptome. Allerdings wird der therapeutische Nutzen durch die hohe Zahl an Non-Respondern erheblich eingeschränkt. Bei 70 Prozent der Patienten wirke der Arzneistoff nicht, sagte Krieglstein.

Auch der NMDA-Antagonist Memantin blockiert den Calciumeinstrom. Er greift an dem von einem glutamatergen Rezeptor gesteuerten Calciumkanal an. Über diesen Kanal strömen im pathologischen Zustand massiv Ionen in das Zellinnere. Als einzige Substanz hat Memantin eine Zulassung für leichte bis schwere Demenzen.

Laut Krieglstein schätzen Klinikern zur Behandlung von Morbus Alzheimer besonders die Acetylcholin-Esterasehemmer. Acetylcholin-Esterase deaktiviert ausgeschüttetes Acetylcholin. Durch eine Hemmung des Acetylcholin-Abbaus erhöhen sie die Konzentration des Neurotransmitters im synaptischen Spalt. Im Gehirn von Alzheimer-Patienten sinkt die Acetylcholin-Konzentration im Verlauf der Krankheit deutlich ab. Der Eingriff in den Transmitterabbau an der Synapse soll das Defizit ausgleichen.

Dies gelingt wohl auch für einen gewissen Zeitraum. Wie Krieglstein erläuterte, verbessern Acetylcholin-Esterasehemmer die Gedächtnisleistung und die Alltagstauglichkeit von Alzheimerpatienten signifikant. Da sie die neuronale Degeneration nicht aufhalten, ist ihr Nutzen aber wie bei den anderen Substanzen zeitlich begrenzt. Außerdem haben sie einige Nebenwirkungen, da sie nicht selektiv in den Acetylcholin-Stoffwechsel des Gehirns eingreifen. Der Transmitter dient vor allem im Gastrointestinaltrakt und an den Motoneuronen zur Reizübertragung. Deshalb können Acetylcholin-Esterasehemmer gastrointestinale Störungen und Muskelkrämpfe verursachen. Durch eine einschleichende Therapie lassen sich die unerwünschten Effekte jedoch reduzieren.

Erhebliche hepatotoxische Nebenwirkungen hatte der erste Vertreter dieser Klasse, Tacrin. Ihm folgten mit Donepezil, Rivastigmin und Galantamin drei weitere Substanzen, deren Hepatotoxizität geringer ist. Ihre Wirksamkeit sei vergleichbar, sagte Krieglstein.

Allen Substanzen ist gemein, dass sie ausschließlich symptomatisch wirken. Den Krankheitsverlauf bremsen oder gar stoppen können sie nicht. Da sie hohe Raten an Non-Respondern aufweisen, müssen bei vielen Patienten mehrere Präparate ausprobiert werden, bis das individuell effektivste gefunden ist. Krieglstein forderte deshalb eindringlich dazu auf, sich nicht vom ersten Misserfolg entmutigen zu lassen, sondern bei mangelnder Wirksamkeit die nächste Substanz zu testen. Bei welchem Patienten welcher Arzneistoff wirke, sei heute nicht vorhersagbar.

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