Viele Fragen und einige Erklärungen |
30.09.2002 00:00 Uhr |
Wer sein Kind vor Allergien schützen will, sollte es auf einem Bauernhof aufwachsen lassen, ihm viele Geschwister und einen Hund schenken und möglichst arm sein. Auf eine wissenschaftlich korrekte Erklärung, warum diese Faktoren die Prävalenz einer allergischen Erkrankung reduzieren, sollte er aber nicht hoffen. Denn, so Professor Dr. H.-Erich Wichmann: „Es sind noch viele Fragen offen.“
In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler herausgefunden, dass es regional erhebliche Unterschiede in der Prävalenz von allergischen Erkrankungen gibt. Während sie in Russland und Albanien vergleichsweise selten vorkommen, leiden in England und den USA, in Australien und Neuseeland überdurchschnittlich viele Kinder an Asthma, Ekzemen oder Heuschnupfen. Deutschland liegt je nach Studie im Mittelfeld oder im unteren Drittel. Wobei im Osten noch immer weniger Kinder betroffen sind als in den alten Bundesländern. Allerdings nähert sich seit der Wiedervereinigung das Krankheitsrisiko in Ost und West langsam an.
„Fest steht, dass der westliche Lebensstil, atopische Erkrankungen begünstigt“, stellte Wichmann fest. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass Kinder aus Großfamilien und mit vielen älteren Geschwistern seltener an Asthma oder Heuschnupfen leiden. Auch übertriebene Hygiene lässt die Wahrscheinlichkeit einer Allergie steigen. Eine weitere Studie belegt, dass Kinder, die sich häufig in Tierställen aufhalten und Milch vom Bauernhof trinken, besser geschützt sind. Dasselbe gilt für Kinder, die früh in eine Kinderkrippe kommen. Dies gelte vor allem im ersten Lebensjahr, stellte Wichmann fest. Wie Studien belegt haben, funktioniert die Toleranzinduktion bei Kindern unter zwölf Monaten am besten.
Verantwortlich für die Toleranzinduktion ist möglicherweise ein Endotoxin von gramnegativen Bakterien. Dies wird in den Matratzen auf Bauernhöfen, in Großfamilien oder in Familien mit einem Hund oder einer Katze in höheren Konzentrationen gefunden, als in klinisch sauberen Einkind-Familien. Wie es genau wirkt ist nicht bekannt. Streng genommen ist nicht einmal zweifelsfrei belegt, dass tatsächlich das Endotoxin die Wirkung vermittelt oder ob es lediglich ein Indikator ist und eine andere Substanz die Toleranz induziert.
Wissenschaftler gehen davon aus, dass Endotoxin das kindliche Immunsystem bei Allergenexposition dazu anregt, die Produktion bestimmter Zytokine zu reduzieren. Dadurch wird das Verhältnis von TH1- zu TH2-Zellen zu Gunsten von TH1 verschoben, was zur Ausbildung einer Toleranz führt.
Also alles ganz einfach? Leider nein. Wie Wichmann weiter ausführte, beginnt die Sensibilisierung für allergische Erkrankungen bereits im Mutterleib. Untersuchungen haben gezeigt, dass im Nabelschnurblut schwangerer Frauen der IgE-Wert steigt, wenn sie mit Gräserpollen, Hausstaubmilben oder dem Katzenallergen fel d1 in Kontakt kommen. Eine weitere Beobachtung in dieser Studie bereitet den Wissenschaftlern einiges Kopfzerbrechen. Sie stellten fest, dass der IgE-Wert bei Frauen, die bereits mehrere Schwangerschaften hinter sich hatten, bei Allergenexposition wesentlich schwächer anstieg. Möglicherweise ist dies eine neue Erklärung dafür, warum die Spätgeborenen in Großfamilien seltener an Allergien erkranken. Bislang war man davon ausgegangen, dass die geringere Hygiene und häufigere Infektionen im Kleinkindalter der Grund für den protektiven Effekt sind. Warum der IgE-Spiegel bei der dritten oder vierten Schwangerschaft niedriger ist als bei der ersten ist allerdings völlig unklar.
Kann man aus dem aktuellen Wissen eine Empfehlung für junge Eltern ableiten? Wichmann rät zur Vorsicht. So sei es zwar zweifelsfrei bewiesen, dass übertriebene Hygiene die Ausbildung von Atopien begünstigt, mangelnde Hygiene sei aber mit Sicherheit keine Alternative. Wichmann: „Sie können den Eltern doch nicht empfehlen, ihre Kinder Dreck essen zu lassen.“ Noch schwieriger umzusetzen ist die präventive Wirkung einer Großfamilie, denn Geschwister gibt es nicht auf Krankenschein. Ebenso dürfte der Umzug auf einen Bauernhof für viele Eltern schlecht umzusetzen sein. Außerdem fehlt die exakte Erklärung, warum Kinder aus Großfamilien oder auf Bauernhöfen seltener unter Allergien leiden.
Bleibt die Anschaffung eines Haustieres. Aber auch hier sieht Wichmann Probleme. „Wenn beim Kind bereits eine Allergie gegen Katzen- oder Hundehaare besteht, dann wäre ein Haustier kontraproduktiv.“ Sinnvoll ist es nur, wenn das Kind noch keine allergische Erkrankung hat.
Wichmanns Bilanz fällt deshalb ernüchternd aus: „Bis Eltern klare Empfehlungen gegeben werden können, sind weitere spezifische Studien nötig.“ Ein kleiner Ratschlag bleibt dennoch übrig: „Mit Vorsicht kann man heute sagen, dass übertriebene Reinlichkeit in der kindlichen Umgebung aus gesundheitlichen Gründen nicht erforderlich ist.“ Die Kinder werden es gerne hören.
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