75 Jahre Penicillin |
08.09.2003 00:00 Uhr |
Wurden sie an der Jahrtausendwende nach dem bedeutendsten medizinischen Fortschritt des 20. Jahrhunderts befragt, antworteten viele Wissenschaftler: die Entdeckung des Penicillins.
Wäre Alexander Fleming nicht von der Idee beseelt gewesen, ein Medikament gegen Infektionen zu finden und hätte er sein Labor immer penibel aufgeräumt, wäre Penicillin vielleicht nie entdeckt worden. Fleming hatte als Lazarettarzt im Ersten Weltkrieg erlebt, wie hilfreich ein solches Mittel sein könnte. Täglich waren Soldaten an den Folgen einer Infektion gestorben, nicht an ihren Verletzungen. Den Ärzten standen damals nur Antiseptika wie Karbolsäure zur Verfügung – die zerstörte jedoch die Leukozyten des Patienten schneller als Bakterien.
Lysozym war der Anfang
Fleming suchte deshalb intensiv nach antibakteriellen Substanzen und entdeckte dabei das körpereigene Enzym Lysozym, das in Nasensekret und Tränenflüssigkeit enthalten ist. Lysozym hielt zwar einige eher harmlose Mikroben in Schach, zur Bekämpfung von Infektionen erwies es sich jedoch als ungeeignet.
Für seine Untersuchungen züchtete der Wissenschaftler Kulturen von Staphylococcus aureus. Als er am 3. September 1928 nach einigen Tagen Urlaub in sein Labor im Londoner St. Mary’s Hospital zurückkehrte, hatte sich in einer vergessenen Petrischale mit Staphylokokken blaugrüner Schimmel breitgemacht. Um den Pilz herum hatten sich die Bakterien „aufgelöst“. „Hätte ich nicht meine frühere Erfahrung mit Lysozym gemacht, dann hätte ich die Platten vermutlich einfach weggeworfen“, schrieb Fleming später.
Fleming nahm eine Probe des Pilzes und untersuchte ihn, ordnete ihn dabei aber einer falschen Pilzart zu, nämlich „Penicillium rubrum“. Erst zwei Jahre später identifizierte ein amerikanischer Pilzexperte den Stamm als „Penicillium notatum“. Seine ungewöhnliche Beobachtung erläuterte Fleming anderen Forschern, seine Arbeit wurde auch im British Journal of Experimental Pathology publiziert, stieß aber auf wenig Interesse.
Erste Experimente
Fleming experimentierte mit der braunen Brühe, die der Pilz absonderte, und stellte fest, dass sie gegen die Erreger von Diphtherie, Scharlach und Gonorrhö wirkte. Sehr hoffnungsvoll stimmte ihn dabei, dass der Extrakt nicht wie die ihm bekannten Antiseptika die Leukozyten zerstörte. Da die Bakterienkulturen einige Zentimeter um den Pilz herum abstarben, war schnell klar, dass er eine toxische Substanz abgeben musste, die Fleming als „Penicillin“ bezeichnete. Der Bakteriologe hatte das Potenzial des Pilzes erkannt, aber den Bakterien-abtötenden Wirkstoff zu identifizieren, war ihm nicht gelungen.
Das schafften erst 1939 Ernst Boris Chain und Howard Florey in Oxford, die ebenfalls nach antibakteriell wirkenden Substanzen suchten. Chain durchforstete dazu alte Fachzeitschriften auf Publikationen über Lysozym und stieß dabei auch auf Flemings Arbeiten in den 20-er Jahren, einschließlich seines Artikels über Penicillin.
Die Arbeit weckte sein Interesse; der zweite Akt in der Entdeckungsgeschichte des Penicillins war eingeläutet. Dem Biochemiker Chain gelang es schnell, Penicillin tausendfach zu konzentrieren, und er begann, zusammen mit seinem Laborleiter Florey, die Wirkung der neuen Substanz im Tierexperiment zu überprüfen. Mit verblüffendem Erfolg: Mäuse, die mit Staphylokokken infiziert waren, wurden rasch geheilt. Chain fasste seine Ergebnisse 1940 in einem Artikel für die Fachzeitschrift Lancet zusammen – ein Artikel, der weltweit Aufsehen erregte. Auch Alexander Fleming las ihn und fuhr nach Oxford, wo Chain dem Londoner Kollegen eine Probe des hoch konzentrierten Penicillins gab.
Inzwischen war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, der Bedarf an Medikamenten zur Behandlung von Wundinfektionen wuchs. So wurde sehr schnell, im Januar 1941, der erste Patient mit Penicillin versorgt. Da nach fünf Tagen die Substanz ausging, konnte der erste Penicillinpatient letztendlich nicht gerettet werden. Wenig später wurde die Behandlung jedoch an vier weiteren Patienten wiederholt, die alle von ihrer Staphylokokkeninfektion geheilt wurden.
Die Entdeckung des Penicillins belohnte die Schwedische Akademie der Wissenschaften im Oktober 1945 mit dem Medizin-Nobelpreis, den sich Fleming, Chain und Florey teilten.
Großproduktion von Penicillin
Für eine umfangreiche Produktion des neuen Medikamentes interessierten sich jetzt die USA. E. R. Squibb gelang es 1943, Penicillin zum ersten Mal kristallin als Natrium-Benzylpenicillin (Penicillin G) zu isolieren. Nachdem entdeckt worden war, dass die Ausbeute an Penicillin siebzig mal so groß war, wenn statt Penicillium notatum der Pilz „Penicillium chrysogenum“ verwendet wurde, konnte jetzt eine großtechnische Produktion beginnen.
Doch die Forschung ging weiter. 1948 gelang es, eine magensaftresistente Form herzustellen, das Phenoxymethylpenicillin (Penicillin V). Damit konnte das neue Heilmittel auch in Tabletten verabreicht werden. Weitere acht Jahre später wurde die Struktur aufgeklärt – Voraussetzung für eine synthetische Darstellung.
Penicillin trat einen Siegeszug um die Welt an, auch wenn es nur gegen gram-positive Bakterien, Neisserien und Spirochäten wirkt. Geschmälert wurde die Erfolgsserie dadurch, dass schon bald die ersten Resistenzen auftraten. Einige Bakterien lernten, den Angriff zu parieren: Sie stellten das Enzym Penicillinase her, das den Betalactam-Ring des Wirkstoffs zerlegt und damit das Medikament unwirksam macht.
Schon bald nach Penicillin wurden weitere Schimmelpilze auf bakterizide Inhaltsstoffe untersucht, die man inzwischen als „Antibiotika“ bezeichnete. Bei Streptomyces- und Cephalosporium-Arten wurde man fündig.
Wettlauf Mensch gegen Mikrobe
Inzwischen gibt es mehr als zehn Klassen an Antibiotika. Sie greifen
Mikroorganismen an, indem sie deren Zellwände auflösen, ihren Stoffwechsel
lahm legen oder die Erbsubstanz attackieren. Doch die Entwicklung neuer
Antibiotika ist ein Wettbewerb wie zwischen Hase und Igel. Bakterien haben
dabei Vorsprung durch eine sehr viel kürzere Generationszeit. Sie entwickeln
sich schneller als Menschen und können rasch auf eine veränderte Umwelt
reagieren. Die große Waffe gegen Infektionskrankheiten droht durch falschen
und vorschnellen Gebrauch stumpf zu werden. So ist Penicillin ein
Meilenstein in der Wissenschaftsgeschichte und markiert doch auch den Beginn
einer langen, nicht endenden Reise.
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