Pharmazeutische Zeitung online

Die Angst vor alten Seuchen

01.10.2001  00:00 Uhr

PHARMAZIE
Linie2.gif (817 Byte)

Die Angst vor alten Seuchen

 

von Alexander Müller, Eschborn

Die Entdeckung der Antibiotika zählt zu den Meilensteinen in der Medizingeschichte. Doch heute sind viele durch Resistenzen wirkungslos geworden. Viele Mediziner und Wissenschaftler finden diese Entwicklung mehr als besorgniserregend.

Mit der Entdeckung des Penicillins gelang der Medizin ein bahnbrechender Fortschritt, da unter anderem bakterielle Hirnhautentzündungen, Lungenentzündungen, Tuberkulose, Diphtherie, Scharlach und Abszesse erfolgreich bekämpft werden konnten. Viele Erreger sind jedoch im Laufe der Zeit resistent gegen Antibiotika geworden und sprechen auf eine Behandlung nur noch schwach oder überhaupt nicht mehr an.

Besonders auffällig seien die Erscheinungen bei Pneumokokken, erklärt Professor Dr. Dieter Adam vom Hauner'schen Kinderspital in München. In Spanien und Frankreich seien inzwischen bis zu 60 Prozent der Erreger gegen Penicillin resistent. In Deutschland liege diese Rate zwar noch unter 1 Prozent, Adam bezifferte den Anteil der mäßig empfindlichen Keime allerdings bereits auf 7 Prozent. Generell ließe sich eine Ausbreitung penicillinresistenter Staphylokokken beobachten.

Vermehrt treten in den letzten Jahren Resistenzen gegen Fluorchinolone auf, die bei vielen Infektionen Medikamente der ersten Wahl sind. Diese Entwicklung ist nach Expertenmeinung derart dramatisch, dass sie einen Rückfall in Zeiten wie vor der Entdeckung der Antibiotika befürchten. Denn die pharmazeutische Industrie kann trotz intensiver Forschung nicht mehr genug neue Antibiotika liefern. Nach Angaben der pharmazeutischen Industrie dauert es 15 bis 20 Jahre, ein neues Antibiotikum zu entwickeln, wobei teilweise Kosten über 500 Millionen US-Dollar entstehen.

Der vernünftigere Einsatz der vorhandenen Antibiotika ist daher nach Expertenmeinung der einzig sinnvolle Ansatz. Das schweizerische Bundesamt für Gesundheit hält eine systematische Resistenzüberwachung für notwendig. Nach Meinung der Behörde liegt in der Humanmedizin das größte Problem, die so oft angesprochenen resistenten Erreger in Nahrungsmitteln spielten hingegen nur eine untergeordnete Rolle.

Um Resistenzen durch Fütterung von antimikrobiellen Substanzen zu verhindern, müssen die Tierzüchter in der Schweiz ein Behandlungsjournal führen, in dem die verabreichten Antibiotika aufgelistet werden. Einige Experten verlangen zusätzlich, dass bestimmte Antibiotika ausschließlich in der Humanmedizin verwendet werden dürfen.

Deutliches Nord-Süd-Gefälle

Verschiedene internationale Studien ergaben außerdem, dass in Bezug auf Antibiotikaresistenzen ein deutliches Nord-Süd-Gefälle besteht. In südlichen Ländern sind resistente Keime wesentlich häufiger anzutreffen als auf der Nordhalbkugel. Diese Beobachtung lässt sich allerdings eher wirtschaftlich und gesundheitspolitisch als geographisch begründen. So sind Antibiotika zum Beispiel in weiten Teilen Südamerikas nur in Einzelfällen verschreibungspflichtig. Die mangelnde Compliance der Patienten gilt als Hauptursache für Resistenzen. Auf Grund mangelnder Beratung setzen viele Patienten das Antibiotikum vorzeitig ab, wenn die Symptome verschwinden. Resistenzen lassen sich jedoch nur vermeiden, wenn alle Keime restlos eliminiert werden.

Laut Weltgesundheitsorganisation WHO entstehen Resistenzen häufiger in armen Ländern, weil qualitativ minderwertige Antibiotika auf dem Schwarzmarkt zu überhöhten Preisen verkauft werden. Unter dem Kostenaspekt leide dann das Einnahmeverhalten der Patienten. In wirtschaftlich stärkeren Ländern sieht die WHO die Gefahr wiederum darin, dass unnötig viele Medikamente verschrieben werden. Von den 150 Millionen in den USA jährlich verordneten Antibiotika sei ein Drittel überflüssig. Die WHO kritisiert außerdem, dass viele Industrienationen die Infektionskrankheiten nur im eigenen Land bekämpften, statt sie global anzugehen. Es sei wichtig, die ärmeren Länder durch internationale Programme zu unterstützen.

Dr. David Heymann, Geschäftsführer der WHO-Abteilung für übertragbare Krankheiten, spricht von einem Wettlauf gegen die Zeit. Man habe nur noch ein oder zwei Jahrzehnte Zeit, um die Infektionskrankheiten weltweit zu bekämpfen, bevor die Krankheiten die Medikamente besiegen. Es habe beispielsweise 20 Jahre gedauert, Penicillin für den medizinischen Gebrauch nutzbar zu machen und ebenfalls nur 20 Jahre, bis es fast überall auf der Welt gegen Gonorrhöe wirkungslos war. Selbst in der Industrienation Nummer eins, den USA, sterben jährlich über 14.000 Menschen an Infektionen durch antibiotikaresistente Erreger. Fast alle Erreger der wichtigen Infektionskrankheiten werden langsam aber sicher resistent gegen gängige Medikamente. In Estland, Lettland, Teilen von Russland und China zeige sich bei über 10 Prozent der Tuberkulosefälle eine Resistenz gegen die beiden wirksamsten Medikamente, so die WHO. In Indien, Russland und Südamerika verbreiten sich resistente Typhus- und Choleraerreger. 

Besorgniserregend sei auch, dass Medikamente gegen andere Tropenkrankheiten, die von Parasiten übertragen werden, nicht mehr ansprechen. Laut WHO sind in Thailand 30 Prozent der Malariaerreger resistent gegen Lamivudin. Auf eine Behandlung der Tropenkrankheit Leishmaniasis mit dem Medikament der ersten Wahl sprechen in Indien 60 Prozent der Erkrankten nicht mehr an.

Durch internationalen Handel und die deutlich zunehmende Reiseaktivität der Menschen verbreiten sich resistente Bakterien zudem immer schneller. Dr. Rosamund Williams, Leiterin des WHO-Teams "drug resistance" warnte davor, die Gefahr weiter zu ignorieren: "Vor langer Zeit haben wir es verpasst, die gefährlichen Infektionskrankheiten in den Griff zu bekommen. Wenn wir es nicht innerhalb dieses Jahrzehnts schaffen, wird es später sehr schwer und teuer sein, wenn nicht unmöglich."

Eingriff in die Therapiefreiheit?

Auch finanzielle Aspekte gilt es zu berücksichtigen. Die Abteilung der WHO entwickelt daher Konzepte, um die Resistenzproblematik zu lösen. Das medizinische Personal müsse weltweit besser ausgebildet und aufgeklärt werden, um fehlerhaftes Verschreiben und veraltete Therapieansätze zu vermeiden. Es sei außerdem wichtig, die Familien zu informieren, damit auch sie verantwortungsbewusster mit Antibiotika umgehen. Diese Strategie der Beobachtung und Aufklärung verfolgt auch die vom Robert Koch Institut unterstützte "IN-SPEAR-Initiative" (International Nosocomial Surveillance Programme of Emerging Antimicrobial Resistance).

Mögliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Resistenzen stoßen in der Praxis jedoch auf Widerstand. Im Falle einer gesetzlichen Regelung zur Anwendung von Antibiotika, fühlen sich niedergelassene Ärzte in ihrer Therapiefreiheit beschränkt. Einem generellen Rückgang an Verschreibungen stehen Interessen der Pharmaindustrie entgegen. Dr. Gro Harlem Brundtland, Generaldirektorin der WHO, denkt vor allem an die nachfolgenden Generationen: "Unsere Großeltern haben in einer Zeit ohne wirksame Antibiotika gelebt, unsere Enkel sollen nicht die gleiche Situation erfahren."

© 2001 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de

Mehr von Avoxa