Arzneimitteltherapie bei Kindern steht auf wackligen Füßen |
10.12.2001 00:00 Uhr |
von Ulrike Wagner, Bonn
Es gibt kaum Daten zu Dosierungen von Arzneimitteln bei Kindern, und kindgerechte Darreichungsformen sind oft nicht auf dem Markt erhältlich. Medikationsfehler ließen sich mit relativ einfachen Mitteln und zusätzlichen Kontrollen vermeiden. Zudem dürfen viele Phytopharmaka in Zukunft bei Kindern nicht mehr angewendet werden, weil Daten fehlen, auch wenn die Präparate schon seit Jahrzehnten angewandt werden. Ein Versuch, das Problem zu lösen, stand während eines Symposiums am 5. Dezember in Bonn im Kreuzfeuer der Kritik.
Der Körper von Neugeborenen enthält im Verhältnis zu dem von Erwachsenen wesentlich mehr Wasser und weniger Fett, erklärte Dr. Otto Frey von der Apotheke der Kliniken des Landkreises Heidenheim und Sprecher der Arbeitsgruppe Pädiatrie der ADKA. Im Laufe des ersten Lebensjahres kommt es zu Fetteinlagerungen und Wasserverlust. Nach ein bis zwei Jahren ähnelt die Zusammensetzung bereits der Erwachsener. Bis dahin unterliegt der Stoffwechsel jedoch sich ständig ändernden pharmakokinetischen Parametern. So nimmt die Niere die Filtration zum Beispiel bereits nach einem Monat auf. Bis die Sekretion jedoch ausgereift ist, dauert es sechs Monate bis zu einem Jahr erklärte Frey während der von der Kooperation Phytopharmaka in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Pädiatrie der Arbeitsgemeinschaft der Krankenhausapotheker (ADKA) organisierten Veranstaltung.
Im Laufe der ersten Lebensmonate und -jahre verändert sich die Halbwertszeit vieler Substanzen dramatisch. Frey nannte als Beispiel Gentamycin, das über die Niere ausgeschieden wird. Bei Frühgeborenen hat das Aminoglykosid eine Halbwertszeit von 12 bis 15 Stunden. Nach zwei bis drei Monaten sinkt sie auf vier bis fünf Stunden, und wenn die Kinder ein bis zwei Jahre alt sind, liegt sie bei etwa zwei Stunden. Das über die Leber metabolisierte Theophyllin hat bei Frühgeburten zum Beispiel eine Halbwertszeit von 30 bis 40 Stunden. Sind die Kinder zwei bis drei Jahre alt, wird die Verbindung zehnmal schneller abgebaut (Halbwertszeit von drei bis vier Stunden).
Die Dosierung eines Arzneistoffs muss für jedes Kind individuell berechnet werden. Basis sind dabei Gewicht, Körperoberfläche, Alter, Gestationsalter und klinische Parameter. Das Körpergewicht allein ist selbst bei älteren Kindern für die Dosisberechnung meist nicht geeignet, erklärte Frey. Oft sei eine Unterdosierung die Folge, weil die Elimination des Arzneistoffs bereits wie bei Erwachsenen funktioniert. Als geeignete Literatur empfahl er das englischsprachige "Pediatric Dosage Handbook". Allerdings sind darin nur chemische Arzneistoffe gelistet. Parenteral applizierbare Präparate hat die Arbeitsgruppe Pädiatrie in "PÄD-I.V. - Sichere Anwendung von intravenösen Arzneimitteln bei Kindern" zusammengetragen.
Selbst wenn die Dosis klar ist, kann man das Arzneimittel oft nicht in geeigneter Dosierung, Konzentration oder Darreichungsform kaufen, sagte Frey. Die Substanzen müssten daher oft ohne verlässliche Daten zu Stabilität, Kompatibilität oder Bioverfügbarkeit von Pflegekräften oder Apothekern individuell verdünnt oder hergestellt werden. Vorsicht sei zum Beispiel geboten beim Umsteigen von Retard-Tabletten auf Säfte, betonte Frey.
Kommt es zu Medikationsfehlern bei Kindern, so handelt es sich in 55 Prozent der Fälle um Überdosierungen, in 27 Prozent um Unterdosierungen, bei 6 Prozent wurde das falsche Arzneimittel verabreicht und bei 2 Prozent wurde die Zubereitung falsch appliziert, sagte Frey. Letzteres sei oft ein Problem, wenn die Eltern der Kinder die deutsche Sprache nicht beherrschen. "Die Eltern müssen jedoch verstehen, worum es geht", sagte der Krankenhausapotheker. Sie sollten die Präparate immer mit Beipackzettel erhalten und über Indikation und Anwendung informiert werden. Die Eltern seien dadurch wesentlich besser motiviert, und viele Fehler ließen sich vermeiden. Auch das Pflegepersonal müsse entsprechend geschult werden. Präparate solle man nur in Ausnahmefällen wechseln. Frey: "Die Erfahrungen, die Eltern und Pflegepersonal mit einem Präparat gesammelt haben, sind unschätzbar."
Die Verschreibungen müssen eindeutig und unmissverständlich sein. Die Stellen nach dem Komma sollte man wenn möglich weglassen, sagte Frey. Zu häufig sei bereits das Komma übersehen worden und es dadurch zu Überdosierungen gekommen. Der Referent empfahl zudem, die Arzneimittel nur in applizierbarer Form und mit eindeutigen Anweisungen zur Applikation abzugeben. Die Herstellung und die zugrundeliegenden Berechnungen müssten vollständig dokumentiert werden. Zudem sollten Dosis, Verdünnungen, Einwaagen et cetera ein zweites Mal unabhängig berechnet werden. Frey empfahl, mündliche Angaben zum Beispiel am Telefon zu wiederholen und zu dokumentieren werden. Ein wichtiger Punkt sei auch die rechtzeitige Bereitstellung der Medikamente.
Frühgeborene auf Intensivstation
Über die Zusammenarbeit zwischen Klinikapotheke und Kinderintensivstation berichtete Rita Wagner, Apothekerin am Zentralklinikum Augsburg. Hier werden viele Frühgeborene behandelt. "In Deutschland kommen jährlich 48.000 Kinder zu früh zur Welt", sagte Wagner. Etwa 8000 Kinder wiegen bei der Geburt zwischen 500 und 1500 Gramm. 90 Prozent der Kinder überleben - dank einer Neugeborenen-Intensivmedizin, die es erst seit etwa 30 Jahren gibt.
Die Frühchen sind meist gesund, aber noch nicht reif für ein Leben außerhalb des Mutterleibs, erklärte Wagner. Daraus ergeben sich spezifische Probleme. So kommt zum Beispiel das Atemnotsyndrom (RDS) nur bei Frühgeborenen vor. Therapiert werden diese Kinder mit Surfactant, einer Substanz, die die Lungenbläschen vor dem Kollabieren schützt. Das Präparat wird entweder aus tierischem Gewebe isoliert oder synthetisch hergestellt.
Schwerpunkt der Apotheke am Augsburger Klinikum ist die Herstellung von Zubereitungen zur parenteralen Ernährung. Denn die Frühgeborenen leiden oft unter einer chronischen Entzündung des Darms (nekrotisierende Enterocolitis = NEC). Auch Muttermilch ist keine geeignete Nahrung für Frühgeborene, erklärte Wagner. Tritt NEC auf, muss sofort die perorale Zufuhr von Nahrung abgesetzt werden. Die parenteral applizierbaren Nährlösungen bestehen aus einer Standardlösung, Fetten und Vitaminen, aber auch individuelle Mischungen werden angefertigt. Wagner und ihr Team haben inzwischen Verordnungsbögen entwickelt, auf denen der Arzt spezielle Anforderungen an die Nahrung stellen kann. Auf demselben Bogen werden Daten über Medikamentengabe und Pflegehinweise gesammelt.
Die Mitarbeiter der Klinikapotheke stellen die Präparate maschinell in Chargengrößen von 30 bis 100 Stück her. Tiefgekühlt halten sie sich bis zu sechs Monaten.
Problematisch ist, dass Medikamente und Nährstoffe bei den kleinen Kindern über einen einzigen Zugang in den Körper gelangen. Niedrige Infusionsraten haben eine lange Kontaktzeit zur Folge. Zudem stehen Informationen zur Stabilität von Präparaten nur bei Raumtemperatur zur Verfügung, im Inkubator herrscht aber eine Temperatur von 37 °C. Die Datenlage zur Anwendung der meisten Substanzen bei den Kleinsten der Kleinen sei mehr als dürftig, bedauerte Wagner.
Phytopharmaka bei Kindern
Für die Zulassung pflanzlicher Medikamente bei Kindern verlangt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zumindest eine Anwendungsbeobachtung. Ansonsten fordert das BfArM den Hersteller auf, im Beipackzettel anzugeben, dass das Präparat Kindern unter zwölf Jahren nicht gegeben werden darf. Aus diesem Grund hat die Kooperation Phytopharmaka in die 2. Auflage ihrer Publikation "Kinderdosierungen von Phytopharmaka" als "Minimalvariante einer Anwendungsbeobachtung" die praktischen Erfahrungen von Pädiatern einbezogen, berichtete Dr. Barbara Steinhoff vom Referat Phytopharmaka im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH), Bonn.
Dazu wurden zunächst für die Indikation "Erkältung" in Kooperation mit IMS Health, Frankfurt am Main, die Daten von 106 Pädiatern aus dem ganzen Bundesgebiet erfasst. Die Phytopharmaka wurden auf dem Fragebogen genannt. Der Arzt musste seine Verordnungen nur noch ankreuzen und die Altersklasse sowie die durchschnittliche Tagesdosis angeben. Am häufigsten verordneten die befragten Ärzte Efeu-Präparate, an zweiter Stelle standen Kamillenblüten. Inzwischen würde das BfArM die Zulassungen und Nachzulassungen auf dieser Basis erteilen, sagte Steinhoff.
Die zweite Befragungsaktion bei Pädiatern zur Indikation Magen-Darm-Erkrankungen ist inzwischen abgeschlossen, erklärte Michael Elosge von IMS Health. Im Unterschied zur ersten basierte die neue Abfrage auf Indikationen anstatt Arzneipflanzen, die Ärzte konnten die Präparate frei nennen. Zudem habe man auf Anregung des BfArM Kombinationen aufgenommen.
Alle 95 niedergelassenen Pädiater, die an der Befragung teilgenommen
haben, verordneten ein Carminativum aus Kamillenblüten,
Pfefferminzblättern, Fenchel, Kümmel und Pomeranzenschalen. Das
zweithäufigste Präparat lag mit 30 Prozent der Ärzte, die es
verordneten, weit abgeschlagen. Die neue Studie erntete von den
Teilnehmern der Veranstaltung heftige Kritik. Es könne nicht angehen,
dass die Zulassungen - falls sich das BfArM auch bei dieser Indikation auf
die Studie der Kooperation Phytopharmaka und IMS Health beruft - auf Grund
von Marktanteilen vergeben werden. Das Präparat werde derzeit am
stärksten beworben, was aber sicher nicht bedeute, dass andere
Phytopharmaka bei der Indikation wirkungslos sind, lautete die Kritik. Ein
anderer Kritikpunkt war die relativ geringe Zahl der Ärzte, die an der
Befragung teilgenommen hatten.
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