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Plädoyer für atypische Neuroleptika

02.08.2004  00:00 Uhr

Plädoyer für atypische Neuroleptika

von Gudrun Heyn, Berlin

Trotz klarer Vorteile der Atypika wird in Deutschland immer noch über die Therapie schizophreniekranker Patienten mit Altsubstanzen diskutiert. Dabei scheinen viele Mediziner nur auf die Kosten, nicht auf verbesserte Wirkungs- und Nebenwirkungsprofile zu achten. Im weltweiten Vergleich spielen dagegen die Typika keine Rolle mehr.

„Bei uns versucht man die Vorteile der neuen Substanzen wegzureden, um das Geld nicht bezahlen zu müssen. Das ist unredlich“, sagte Professor Dr. Walter Müller von der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main auf dem Hauptstadtkongress 2004 Medizin und Gesundheit. „Im Zeichen der Kostenreduktion werden heute Klassifikationssysteme zur Auswahl von Therapeutika eingesetzt, die der Komplexität pharmakologischer Unterschiede nicht gerecht werden“, betonte der Pharmakologe. Mit welchem Medikament ein Patient heute behandelt wird, werde vielfach nur anhand der Wirksamkeit entschieden. Der enge Kostenrahmen setzt deutliche Grenzen für den Einsatz neuer und innovativer Arzneimittel. Kriterien wie das Nebenwirkungsprofil, die Compliance oder die Negativ-Symptomatik schizophrener Psychosen spielen daher in der Therapie-Entscheidung kaum eine Rolle. „Doch die in Studien nachgewiesene Signifikanz einer Wirksamkeit ist etwas anderes als die klinische Relevanz“, unterstrich auch Professor Dr. Bernd Mühlbauer vom Institut für Pharmakologie am Klinikum Bremen.

Dopamin-Wirkung runterregeln

Nach der Dopamin-Theorie wird Schizophrenie durch eine Überfunktion des Dopamins im mesolimbischen System verursacht, infolgedessen so genannte Positiv-Symptome auftreten. Die Patienten erleben Wahn und Halluzinationen. Ziel der Therapie mit Neuroleptika ist es daher, die hohe Dopamin-Aktivität im mesolimbischen System durch die Blockade von Dopamin-Rezeptoren zu vermindern. Anhand von Chlorpromazin wird dieser Wirkmechanismus, aber auch das Problem vieler Altsubstanzen besonders deutlich. Therapiert wird mit steigenden Dosen, bis die Dopamin-Rezeptoren zu 75 Prozent besetzt sind.

Ein solcher Effekt ist jedoch im nigrostriatalen System nicht erwünscht. Während das mesolimbischen System für Motivation und Verstärkung bedeutsam ist, koordiniert das nigrostriatale System den Wechsel motorischer Programme und damit die Bewegungskontrolle. Eine dopaminerge Blockade hat hier schwere motorische Störungen zur Folge. Extrapyramidalmotorische Störungen (EPS) wie Frühdyskenesien, Parkinsonismus oder Akathisie können ausgelöst werden, ebenso wie irreversible neurologische Schäden in Form von Spätdyskenesien bei einem Einsatz über viele Jahre.

Außer an Dopamin-Rezeptoren vom Typ D2 und D3 bindet Chlorpromazin an weitere, ganz unterschiedliche Rezeptoren. Der Blockade der Dopamin-Rezeptoren versucht der Organismus entgegenzusteuern und setzt Prolaktin frei, das den Dopamin-Spiegel hebt. So kommt es auch zu endokrinologischen Veränderungen.

„Der Wirkungsmechanismus, den wir für die antipsychotische Wirkung brauchen, war und ist assoziiert mit schwer wiegenden unerwünschten Arzneimittelwirkunkungen für den Patienten“, sagte Müller. In Deutschland wurde daher die Dosierung von Neuroleptika sogar zeitweise von dem Schweregrad der motorischen Störungen abhängig gemacht.

Die Entwicklung von Haloperidol war allein deshalb ein Fortschritt, weil es außer den Rezeptoren vom Typ D2, D3 und D4 die anderen Rezeptoren relativ unbesetzt lässt. Doch auch Haloperidol wird erst in einem Dosisbereich wirksam, in dem extrapyramidale Störungen auftreten.

Atypika binden spezifischer

„Dank der atypischen Neuroleptika gibt es heute den jungen Patienten, der wie ein Parkinson-Patient durch die Anstalten schlurft, nicht mehr“, sagte Professor Dr. Isabella Heuser von der Charité, Berlin. Früher litten circa 50 Prozent der Betroffenen unter EPS. Akute Zungen-Schlundkrämpfe und akute motorische Einsteifungen gehörten zum Alltag.

Neuroleptika sind durch ihr spezifisches Bindungsverhalten an den Dopamin-Rezeptor gekennzeichnet. Doch Atypikum ist nicht gleich Atypikum. Die meisten dieser Moleküle sind chemische Varianten, die alle ein divergierendes Rezeptorprofil haben. Für den einzelnen Patienten können daher die unterschiedlichen unerwünschten Wirkungen sehr relevant sein, hieß es auf dem Kongress.

Clozapin ist die Muttersubstanz der Atypika. Sein Kennzeichen ist eine stärkere Wirkung auf das mesolimbische System, wohingegen das nigrostriatale System weniger beeinflusst wird. Als „Dirty drug“ wirkt es auf sehr viele unterschiedliche Rezeptoren, was zu einer ganzen Reihe unerwünschter Wirkungen führt. So kann Clozapin schwer wiegende Blutbildveränderungen hervorrufen. Gewichtszunahme, kardiovaskuläre Ereignisse, Müdigkeit und Sedation treten auf, anticholinerge und antiadrenerge Effekte werden beobachtet. Die gefürchteten motorischen Nebenwirkungen fehlen jedoch fast völlig. Unterhalb einer Dosis von 900 mg unterscheidet sich Clozapin, wie auch das Atypikum Quetiapin, diesbezüglich nicht von Placebo, weshalb Clozapin heute noch gerne in der Therapie eingesetzt wird. Für viele Patienten ist Clozapin somit Hoffnung, wenn andere Substanzen ausgereizt sind. „Auf Grund der vielen anderen unerwünschten Arzneimittelwirkungen kann die Dosis jedoch nicht richtig ausgenutzt werden“, betonte Müller.

Gewicht und Gynäkomastie beachten

Zu den ältesten Atypika nach Clozapin zählt Risperidon. Es bindet sehr potent an D2-Rezeptoren, aber vor allem auch an 5-HT2-Serotonin-Rezeptoren. Daneben zeigt es eine α-Rezeptor blockierende und geringe sedierende Wirkung. Anticholinerge Eigenschaften werden dagegen nicht beobachtet. Bei richtiger Dosierung ist die Inzidenz motorischer Störungen nur sehr gering, als unerwünschte Wirkung tritt aber auch hier eine Gewichtszunahme auf. Insbesondere ist unter Risperidon jedoch eine Prolaktinerhöhung zu beachten: Bei etwa 75 Prozent der Frauen und bei 35 Prozent der Männer kommt es zu einer Hyperprolaktinämie, infolgedessen sich die männlichen Brustdrüsen hormonabhängig vergrößern können (Gynäkomastie). Als verhaltensaktives Hormon führt Prolaktin zudem zu reduzierter Libido, erektiler Dysfunktion, Ejakulationsstörungen, vaginaler Dysfunktion, Anorgasmie, Infertilität und Osteoporose.

Auch Amisulprid kann einen deutlichen Prolaktinanstieg hervorrufen. Neben den beschriebenen unerwünschten Wirkungen sind außerdem endokrinologischen Arzneimittelwirkungen zu beobachten. Das Benzamid ist eine relativ reine Substanz und bindet nur an Dopamin-Rezeptoren. In niedrigen Dosierungen wirkt Amisulprid prodopaminerg, in hohen Dosierungen antidopaminerg.

Olanzapin bindet neben D2 sehr stark an Serotonin-Rezeptoren. Die Substanz bewirkt daher eine deutlichere Gewichtszunahme als die anderen Atypika. In einer Studie führte die Gabe von Olanzapin, aber auch von Clozapin, bereits nach zwölf Wochen zu einem Mehrgewicht von vier Kilogramm. Dagegen nahmen Patienten, die ein Jahr lang mit Risperidon oder Quetiapin behandelt wurden, im Mittel nur rund zwei Kilogramm zu. Darüber hinaus scheinen Patienten unter Olanzapin vermehrt Diabetes mellitus zu entwickeln. Unklar ist, ob auch Clozapin eine Zucker-Stoffwechselstörung bewirken kann.

Keine bedeutende Gewichtszunahme und auch keine Hyperprolaktinämie zeigt sich dagegen bei der Gabe von Aripiprazol. Die Substanz gilt als erster Vertreter einer dritten Generation der Neuroleptika. Der neue Wirkmechanismus des Aripiprazol beruht auf einem partiellen Dopamin-D2-Rezeptor-Agonismus und einem Antagonismus für Serotonin-5HT2-Rezeptoren. Somit blockiert es D2-Rezeptoren, besitzt aber auch eine intrinsische prodopaminerge Aktivität. „Man kann von einem dopaminergen Grundrauschen sprechen“, sagte Heuser.

Negativ-Symptome in Schach

Betrachtet man allein die Positiv-Symptomatik, so sind Atypika in ihrer Wirkung nicht besser als klassische Antipsychotika. Einen deutlichen Vorteil haben sie jedoch in der Behandlung der so genannten Negativ-Symptomatik. Negativ Symptome treten dann auf, wenn Dopamin in den mesocorticalen Bahnen blockiert wird und eine Hypoaktivität entsteht. Kennzeichnend sind Einbußen der Kognition, depressive Symptome, Affektverflachung mit gedanklicher und sprachlicher Verarmung sowie Antriebsstörungen oder soziale Rückzugstendenzen. Mal mehr oder weniger zeigen Patienten mit schizophrenen Psychosen Positiv- oder auch Negativ-Symptome.

Gegenwärtig nimmt die Negativ-Symptomatik in ihrer Inzidenz deutlich zu, ohne dass es bisher Erklärungen dafür gibt. „Klar ist, dass die affektiven Syndrome im Rahmen einer Schizophrenie-Erkrankung und -Behandlung bisher zu wenig Beachtung fanden“, sagte Heuser. Heute bestimmen vor allem die Negativ-Symptome, inwieweit ein Patient rehabilitierbar ist.

Bedeutung haben sie außerdem, weil Suizidgefahr vor allem während eines postakuten depressiven Syndroms besteht. 10 Prozent der schizophrenen Patienten begehen innerhalb der ersten zehn Jahre ihrer Erkrankung Selbstmord. Und zwar dann, wenn ihnen das Ausmaß ihres Leidens überdeutlich bewusst wird. Besonders Patienten mit einem hohen intellektuellen Niveau und einer guten sozialen Ausgangslage sind gefährdet.

Aber nicht nur bei einer Negativ-Symptomatik haben Atypika Vorteile, sie sind auch in der begleitenden Behandlung von kognitiven Störungen besser als klassische Neuroleptika. So gibt es Hinweise aus Tierversuchen, dass Atypika auch die cortikale und hypocampale Freisetzung des für Kognition und Gedächtnis wichtigen Botenstoffs Acetylcholin erhöhen. Außerdem beeinflussen sie die frontale und hypocampale Dopaminfreisetzungen positiv. „Dennoch gibt es nach wie vor erhebliche kognitive Einschränkungen“, sagte Heuser.

Sehr häufig verläuft eine schizophrene Psychose chronisch. Am häufigsten leiden die Patienten lebenslang unter wiederholten akuten Krankheitsepisoden, aber auch chronisch-schleichende Krankheitsverläufe sind möglich. Innerhalb der neurologischen Forschung gilt daher die Nebenwirkungsrate als verlässlichste Variable, um die klinischen Relevanz eines Arzneimittels einzuschätzen. Abgeleitet wird sie daraus, ob der Patienten in der Therapie verbleibt. „Für einen jüngeren männlichen Patienten ist vielleicht eine Prolaktinerhöhung eher tolerabel als eine Gewichtszunahme von zehn Kilogramm“, sagte Müller. Die Therapieentscheidung sollte sich daher auch in Zukunft nach den individuellen Bedürfnissen der Patienten richten und insbesondere auch Nebenwirkungsqualitäten berücksichtigen, hieß es auf dem Hauptstadtkongress. Top

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