Wenn die Konzentration schwer fällt |
28.07.2003 00:00 Uhr |
Zappelphilipp und Hans-guck-in-die-Luft – die Symptome hat der Frankfurter Neurologe Heinrich Hoffmann 1844 im Struwwelpeter beschrieben. 140 Jahre später bekam das auffällige Verhalten den Namen Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS), eine Störung, von der nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene betroffen sind.
„Äußerlich kann der Patient ganz ruhig wirken, doch innerlich ist er voller Spannungen“, beschrieb die Münchner Neurologin Dr. Johanna Krause die Symptome erwachsener ADHS-Patienten. Wie die Störung erkannt und behandelt werden kann, wurde beim vierten Interdisziplinären Kongress für Suchtmedizin im Juli in München diskutiert.
Mangelnde Konzentration, depressive Verstimmungen, emotionale Überreaktionen, die Unfähigkeit, Ordnung zu halten und den Alltag zu organisieren, belasten Beruf und Privatleben. Je nach Diagnostik sind ein bis sechs Prozent aller Erwachsenen von ADHS betroffen, halb so viele wie Kinder und Jugendliche.
Die Störung erkennen
Die Diagnose sei schwierig und erfordere viel Erfahrung, erklärte die Neurologin. Gestellt wird sie anhand klinischer Symptome mit Hilfe verschiedener Scales, so die „Wender Utah Rating Scale (WURS)“ und die „Brown ADD Scale“. Als charakteristische Anzeichen führten Krause sowie ihr Hannoveraner Kollege Dr. Michael Ohlmeier Reizoffenheit und Ablenkbarkeit, enorme Stimmungsschwankungen, emotionale Überreaktionen sowie Desorganisation an.
Diese Symptome können zu den jugendspezifischen dazu kommen, aber auch für sich auftreten. „Ich wusste immer, dass ich anders bin“, erklären viele Patienten, die ihre Problematik oft spüren, ohne sie jedoch benennen zu können. Die unspezifischen Merkmale müssen in die Biographie eingeordnet und differentialdiagnostisch von anderen Erkrankungen abgegrenzt werden. Litt der Patient schon während seiner Kindheit unter diesen Störungen, ist dies ein starkes Indiz für die Diagnose ADHS im Erwachsenenalter. Hinweise können Schulzeugnisse geben, in denen die Lehrer die mangelnde Konzentration beschrieben.
Nikotin als Selbstmedikation
Auffällig viele ADHS-Patienten rauchen oder haben als Jugendliche geraucht – vermutlich der Versuch einer Selbstmedikation, weil sie merken, dass sie mit Nikotin ruhiger werden. Krause zeigte an einer Untersuchung mit einem Positronen-Emissions-Tomograph (PET), dass Nikotin bei ADHS-Patienten eine vergleichbare Verminderung der Dopamintransporter im Basalganglion wie Methylphenidat bewirkt. Dabei schienen sich die Raucher gerade so viel Nikotin zu zuführen, dass sich die Zahl ihrer Dopamintransporter auf dem Niveau der Nichtraucher ohne ADHS einpendelte.
Wie wichtig frühzeitiges Erkennen von ADHS sein kann, zeigte Professor Dr. Michael Rösler von der Universität des Saarlandes in Homburg/Saar an einer Untersuchung aus dem Jugendstrafvollzug Ottweiler. Mehr als ein Fünftel der dort Inhaftierten, deren Straftaten mit Affekthandlungen wie Gewalt- und Sexualdelikten zusammenhängen, wiesen auffällige Symptome auf oder hatten an diesen als Kinder gelitten. Wendet man die amerikanischen Kriterien an, trifft die Diagnose ADHS sogar bei 45 Prozent der untersuchten jungen Männer zu. Im Schnitt waren die jugendlichen Gefangenen mit ADHS früher straffällig geworden als ihre inhaftierten Altersgenossen. Rösler vertrat die Auffassung, dass eine möglichst frühzeitige Behandlung nicht zuletzt hilft, solche negativen Karrieren zu verhindern.
Medikamente und Psychotherapie
Die Experten waren sich hinsichtlich der Therapie einig, dass bei Kindern sowie Erwachsenen Stimulanzien Mittel der Wahl sind. Methylphenidat als Amphetaminderivat wirkt als indirekter Dopamin- und Noradrenalinagonist und führt zu einer relativen Erhöhung des postsynaptischen Dopamins.
Auch wenn eine Stimulanzientherapie vielen Patienten sehr gut hilft, muss die Medikation eingebettet in ein Behandlungskonzept sein, das eine psychotherapeutische Therapie einschließt. Bewährt haben sich dabei sowohl Verhaltens- wie Tiefenpsychologie. Eine entscheidende Phase für junge ADHS-Patienten sei die Berufswahl, berichtete Krause aus ihrer Praxis. In der Schule seien die Jugendlichen unkonzentriert und desinteressiert bei Fächern, die ihnen keinen Spaß machen. „Wenn sie jedoch später in einem Beruf arbeiten, der ihnen liegt, können sie hervorragende Leistungen erbringen.“
ADHS und Sucht
Patienten mit ADHS entwickeln häufig auch einen Alkoholabusus. Rauchen die Patienten, um ruhiger zu werden, so trinken sie Alkohol, um sich gegen Reizüberflutung abzuschirmen. Insgesamt sei das Risiko, an einer Suchtstörung zu erkranken, bei ADHS-Patienten doppelt so hoch wie bei Menschen ohne ADHS, erklärte Rösler. Von einer Behandlung mit Methylphenidat gehe dagegen kein Risiko aus, dass dadurch eine Sucht ausgelöst wird.
Ob Methylphenidat jedoch auch bei Patienten eingesetzt werden kann, die bereits abhängig sind, wurde von den Referenten sowie den Neurologen im Auditorium kontrovers diskutiert. Ein Teil berichtete, dass ADHS-Patienten abstinent wurden, wenn sie mit Methylphenidat behandelt wurden; andere Ärzte wichen jedoch in der Therapie auf andere Wirkstoffe wie Reboxetin, Venlafaxin oder trizyklische Antidepressiva aus.
Dopaminmangel als Ursache Verursacht wird ADHS durch einen Dopaminmangel, an dem auch genetische Komponenten beteiligt sind. Fast immer ist die Familienanamnese positiv. Die Münchner Neurologin Dr. Johanna Krause berichtete aus ihrer Praxis, dass vielen Patienten ihre eigene Störung erst durch eine ADHS-Diagnose bei ihren Kinder bewusst wird.
Auf Grund einer genetischen Variante sind vermehrt Dopamintransporter vorhanden, die den Botenstoff vorzeitig zur Präsynapse zurücktransportieren, so dass zu wenig des Botenstoffs für die Informationsvermittlung postsynaptisch zur Verfügung steht. Gestützt wird die Dopaminmangelhypothese durch bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) oder Single-Photon-Emissions-Computertomographie (SPECT).
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