Potenzieller Durchbruch mit Inkretin-Mimetika |
21.06.2004 00:00 Uhr |
von Christine Vetter, Hamburg
Große Fortschritte in der Diabetestherapie erwarten Experten von einer neuen Klasse Antidiabetika, den Inkretin-Mimetika. Diese Substanzen – deren erster Vertreter Exenatide ist – ahmen die Wirkung des natürlichen Darmhormons Glucagon-like-Peptide-1 (GLP-1) nach, das maßgeblich die Insulinsekretion steuert.
Prävalenz und auch Inzidenz des Typ-2-Diabetes steigen weltweit weiter an, wobei die Patienten schon längst nicht mehr nur im hohen Alter sondern durchaus schon in mittleren und jungen Lebensjahren erkranken. „Der Diabetes ist damit zu einer der größten medizinischen Herausforderungen unseres Jahrhunderts geworden“, betonte Professor Dr. Baptist Gallwitz, Tübingen, bei einem Round-table-Gespräch anlässlich des JDRFI-Symposiums (Juvenile Diabetes Research Foundation Internationale) im Forschungszentrum von Eli Lilly in Hamburg.
Schutz auf Betazellen
Derzeit deutet sich aber eine Art Durchbruch in der Diabetestherapie an. Denn mit den Inkretin-Mimetika dürfte schon in absehbarer Zukunft eine neue Klasse von Antidiabetika zur Verfügung stehen, die die Physiologie der Blutzuckerregulation nachahmt und darüber hinaus sogar protektive Effekte auf die Betazellen des Pankreas hat. „Es scheint mit den Inkretin-Mimetika möglich zu sein, den Untergang der Betazellen abzuwenden und so die Progression des Typ-2-Diabetes aufzuhalten“, berichtete Professor Dr. Jens Holst aus Kopenhagen.
Die Inkretin-Mimetika, deren erster Vertreter Exenatide schon im kommenden Jahr in den USA zugelassen werden dürfte, wirken laut Holst analog den Darmhormonen (Inkretine), deren wichtigster Vertreter das GLP-1 ist. Das Hormon stimuliert auf einen Glukosereiz hin die Sekretion von Insulin in den Betazellen. So konnte zum Beispiel in Untersuchungen bei diabetischer Stoffwechsellage durch eine kontinuierliche GLP-1-Infusion der Blutzuckerspiegel praktisch normalisiert werden. Darüber hinaus reguliert GLP-1 den Hunger sowie den Appetit. Es gibt im Tierexperiment wie auch beim Menschen Beobachtungen, dass unter einer GLP-1-Gabe die Nahrungsaufnahme reduziert wird und das Körpergewicht langfristig sinkt.
Noch interessanter seien aus diabetologischer Sicht, so der dänische Wissenschaftler, die Wirkungen auf die Betazelle. Denn GLP-1 verlängert das Überleben der insulinproduzierenden Zellen, wirkt der Apoptose entgegen und fördert die Bildung von neuen Betazellen aus Vorläuferzellen (Progenitorzellen). „Damit hat GLP-1 das Potenzial, die Betazellen vor dem Untergang zu schützen“, so Holst. Das Hormon ist zudem ein Stimulus für die Differenzierung und Proliferation dieser Zellen und diese Effekte könnten möglicherweise therapeutisch im Sinne einer Betazellprotektion oder sogar einer Betazellregeneration genutzt werden.
Wirkstoff aus Krustenechsenspeichel
Allerdings kann GLP-1 selbst nicht in der Therapie eingesetzt werden, da das Hormon im Körper rasch durch DPP IV (Dipeptidyl Peptidase IV) abgebaut wird. Per Zufall wurde im Speichel der amerikanischen Krustenechse mit Exendin-4 ein Wirkstoff entdeckt, der in seiner Aminosäuren-Zusammensetzung zu 50 Prozent der von GLP-1 entspricht, im Körper an die gleichen Rezeptoren bindet und auch die Wirkungen von GLP-1 vermittelt.
Die analog zu Exendin-4 synthetisch hergestellte Substanz Exenatide bewirkt auf einen Glukosereiz hin ebenso wie GLP-1 eine Stimulation der Insulinsekretion und hemmt ebenfalls den Hunger sowie den Appetit, erläuterte Dr. Michael Trautmann vom Lilly Forschungszentrum in Hamburg. Exenatide greife direkt in das beim Diabetiker gestörte, sich selbstregulierende System ein und bewirke praktisch auf physiologischem Wege eine Steuerung der Insulinsekretion. Dies geschieht streng glukoseabhängig, was den Vorteil hat, dass die Behandlung mit Exenatide nicht zu Hypoglykämien führt. Das neue Antidiabetikum Exenatide hat nach Trautmann weitere Vorteile: Zwar muss der Wirkstoff ebenso wie Insulin subkutan injiziert werden, die Behandlung ist jedoch viel einfacher. So ist eine zweimal tägliche Injektion in einer Standarddosierung ausreichend, ein aufwendiges Messen der Blutzuckerspiegel und eine Anpassung der Dosierung ist nicht erforderlich.
Die Wissenschaftler gehen derzeit davon aus, dass Exenatide vermutlich zunächst in der Diabetestherapie eingesetzt werden wird, wenn sich durch perorale Antidiabetika allein eine vernünftige Blutzuckereinstellung nicht mehr realisieren lässt, eine Insulinbehandlung aber noch nicht indiziert ist oder vom Patienten nicht akzeptiert wird. Bestätigen sich jedoch die ersten Befunde, dass Exenatide dazu beiträgt, Folgekomplikationen des Diabetes mellitus abzuwenden und dass es darüber hinaus protektive Wirkungen auf die Betazellen besitzt, könne die Indikation deutlich weiter zu fassen sein, so Holst.
JDRFI – Stiftung für die Diabetesforschung
Hinter dem Kürzel JDRFI, das für „Juvenile Diabetes Research Foundation Internationale“ steht, verbirgt sich eine Stiftung, die vor rund 30 Jahren von den Eltern an Typ-1-Diabetes erkrankter Kinder in den USA gegründet wurde. Die Stiftung fördert allgemein die Diabetesforschung und ist laut Dr. Robert Goldstein, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung in New York, nach der offiziellen Forschungsförderung durch die US-Regierung der potenteste Geldgeber in der Diabetesforschung. Im Jahre 2003 förderte die JDRFI die Diabetesforschung mit 93 Millionen US-Dollar, wobei 38 Prozent des Geldes in ausländische Projekte floss. Die meisten von der JDRFI geförderten Projekte betreffen die Betazellforschung sowie die Forschung an Stammzellen, weil in diesen beiden Bereichen entscheidende Durchbrüche für die Diabetestherapie erwartet werden.
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