Eine Untersuchung zum Kenntnisstand der Apotheker in Sachsen-Anhalt |
27.05.2002 00:00 Uhr |
Folsäuresubstitution
von Christine Rösch, Steffi Kästner, Christine Heinrich und Volker Steinbicker, Magdeburg
Pro Jahr kommen circa 800 Kinder mit schweren ZNS-Schäden auf die Welt. 70 Prozent der Fälle könnten durch die rechtzeitige Gabe von Folsäure in der Schwangerschaft vermieden werden. Eine Untersuchung in Sachsen-Anhalt zeigt: Nicht immer gibt es den richtigen Rat in der Apotheke.
Die präventive Wirkung einer Folsäuresupplementierung vor und während der Schwangerschaft haben Wissenschaftler seit fast 30 Jahren in verschiedenen Studien nachgewiesenSo konnte das Risiko für einen erneuten Neuralrohrdefekt (offener Rücken) bei Kindern von Frauen, die in ihrer Anamnese bereits ein derart erkranktes Kind hatten, um über 70 Prozent gesenkt werden. Auch das Erstrisiko kann in ähnlicher Größenordnung gemindert werden (1 - 3).
Einige medizinische Fachgesellschaften in Deutschland haben deshalb 1994 und 1995 Empfehlungen zur perikonzeptionellen Folsäureeinnahme ausgesprochen (4). Danach sollen Frauen mit Kinderwunsch mindestens vier Wochen vor und acht Wochen nach der Empfängnis täglich 0,4 mg Folsäure einnehmen. Frauen, die bereits ein Kind mit einem Neuralrohrdefekt hatten oder die selbst unter Epilepsie leiden, wird die tägliche Einnahme der zehnfachen Menge empfohlen. Neben der Prävention von Neuralrohrdefekten schützt Folsäure vermutlich auch vor Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, einigen definierten Herzfehlern sowie obstruktiven Veränderungen der ableitenden Harnwege (5, 6).
Nur 6 Prozent ausreichend versorgt
Leider ist die Zahl der Neuralrohrdefekte im Bundesland Sachsen-Anhalt seit 1995 nicht signifikant gesunken (7). 1998 befragte man 567 Wöchnerinnen in verschiedenen Entbindungseinrichtungen des Bundeslandes. Das Ergebnis: Nur 6 Prozent der Frauen hatten perikonzeptionell Folsäure in einer ausreichenden Dosierung eingenommen. 391 (68,9 Prozent) der Befragten planten zwar eine Schwangerschaft und hatte daher gezielt auf eine Verhütung verzichtet. Aber nur 4,6 Prozent nahmen in der sensiblen Phase prophylaktisch Folsäure ein.
Im vergangenen Jahr wurde erneut 1221 Wöchnerinnen in Sachsen-Anhalt befragt. Leider führte die Erhebung zu ähnlichen Ergebnissen. Von allen Frauen, die den Fragebogen beantworteten, hatten nur 4,5 Prozent präkonzeptionell ein Folsäurepräparat eingenommen. Von den 65 Prozent der Frauen, die "geplant" schwanger wurden, hatten 6,8 Prozent eine Fehlbildungsprophylaxe mit Folsäure schon vor der Konzeption begonnen (10, 11).
Diese Ergebnisse zeigen, dass der Kenntnisstand über die fehlbildungspräventive Wirkung der Folsäure bei Frauen im gebärfähigen Alter in Deutschland nach wie vor ungenügend ist. Apothekerinnen und Apotheker können maßgeblich dazu beitragen, dieses Wissensdefizit abzubauen. In der vorliegenden Arbeit wurde daher der Kenntnisstand der Apotheker in Sachsen-Anhalt und die geübte Beratungspraxis zum Thema Folsäure und Schwangerschaft untersucht, um festzustellen, ob die Pharmazeuten auf diesem Gebiet ihrer Beraterfunktion gerecht werden können.
Fragebögen und Testberatung
Bei dieser Untersuchung wurden einerseits alle Apothekenleiter in Sachsen-Anhalt anonym an Hand eines Fragebogens befragt. Andererseits fand eine persönliche Befragung der Apothekenleiter in Form einer Testberatung satt.
Insgesamt 598 öffentliche Apotheken im Bundesland erhielten einen Fragebogen. Darin wurden strukturierte Fragen zur Bedeutung von Mineralien und Vitaminen in der Schwangerschaft gestellt. Zunächst fragte man nach Präparategruppen (Monovitaminpräparate, Multivitaminpräparate, Kombinationspräparate) und bot bei den Mineralien Eisen, Magnesium, Calcium und Jod als Alternativen an. Mehrfachnennungen waren möglich. Beim Einnahmezeitraum konnten die Befragten zwischen präkonzeptionell, perikonzeptionell und postkonzeptionell wählen.
In einem zweiten Fragenblock wurde nach Mineralien und Vitaminen gefragt, die schon bei Kinderwunsch empfohlen werden sollten und für die auch in der Schwangerschaft ein erhöhter Bedarf besteht. Die Empfehlungen sollten kurz begründet werden. Hierzu wurden die Vitamine A, B6, B12, Folsäure, C, D, E und K angeboten. Mehrfachankreuzungen waren ebenfalls möglich. Letztlich wurden die drei Erkrankungen endogenes Ekzem, Epilepsie und Diabetes mellitus genannt. Die Apotheker sollten die Krankheit(en) ankreuzen, bei denen ihrer Meinung nach Vitamine in höheren Dosen substituiert werden müssen.
Die Fragebögen wurden gemeinsam mit der Apothekerkammer Sachsen-Anhalt entwickelt. Die Kammer übernahm den Versand der Fragebögen. Die Apotheken sollten bei der Rücksendung keinen Absender angeben, um die Anonymität zu gewährleisten. Insgesamt 104 der 598 angeschriebenen Apotheker schickten einen auswertbaren Fragebogen zurück (17 Prozent).
Apotheker wurde gezielt befragt
Um das Beratungsverhalten der Apotheker und die Wissensvermittlung an Kundinnen realitätsnah zu überprüfen, folgte eine anonyme Testberatung. In Vorbereitung dazu wurde ein strukturierter Fragenkatalog erstellt. Die Fragende - eine angehende Oecotrophologin - stellte sich in der Apotheke als Frau mit erstmaligem Kinderwunsch vor. Der Apotheker wurde ausdrücklich um die Beratung gebeten. Ohne das Vitamin Folsäure konkret zu erwähnen, fragte die Ratsuchende nach Vitaminen und Mineralien, die vor oder während einer Schwangerschaft von besonderer Bedeutung sind. Gesprächsinhalte waren Fragen nach eigneten Präparaten, zum Einnahmezeitpunkt, empfohlenen Dosierungen und zu möglichen protektiven Effekten beziehungsweise schädigenden Wirkungen auf die Entwicklung des Kindes. Unmittelbar nach Verlassen der Apotheke wurden die Angaben auf einem Diktiergerät festgehalten und später anonymisiert und . Es konnten insgesamt 38 Gespräche mit Apothekern geführt werden.
82 Prozent empfahlen Folsäure
Bei der Frage nach einzelnen Vitaminen und ihrer Bedeutung für die Schwangerschaft, empfahlen 82 (79 Prozent) der Apotheker Folsäure, einschließlich der sensiblen Einnahmephase. 12 Prozent hielten die Einnahme nur präkonzeptionell für wichtig und 8 Prozent empfahlen ausschließlich eine postkonzeptionelle Einnahme. Als Einnahmegrund nannten 39 Prozent der Apotheker die Prophylaxe von Fehlbildungen. Etwa 10 Prozent nannten andere Gründe und16 Prozent konnten ihre Empfehlung gar nicht begründen.
Die Einnahme von Vitaminmonopräparaten wurde von 51 Prozent der Apotheker grundsätzlich empfohlen. Von den 53 Apothekern, die eine Monopräparate favorisierten, benannten 44 (42,3 Prozent) ein Folsäuremonopräparat oder Folsäure allgemein. 4 Apotheker empfahlen Vitaminmonopräparate ohne Folsäure. Von den 44 Apothekern, die Folsäure für wichtig hielten, benannten 30 den korrekten Einnahmezeitraum von mindestens vier Wochen vor und acht Wochen nach der Empfängnis.
55 (53 Prozent) der Befragten rieten zur regelmäßigen Einnahme von Multivitaminpräparaten in der Schwangerschaft. Von den Apothekern, die Multivitaminpräparate empfahlen, nannten 28 (27 Prozent) ein Präparat, das tatsächlich Folsäure enthält. 12 empfahlen ein Produkt ohne Folsäure und 15 erwähnten keine speziellen Präparate. Von den 28 Apothekern, die ein Multivitaminpräparat mit Folsäure anboten, nannten 18 (17 Prozent) die sensible Einnahmephase. Acht nannten die Einnahmephase nicht korrekt.
71 (68 Prozent) der Befragten hielten die Einnahme von Kombinationspräparaten mit Folsäure für wichtig, davon nannten 61 (59 Prozent) Präparate mit einem entsprechenden Folsäureanteil. Von diesen 61 Apothekern gaben 39 (37,5 Prozent) die Einnahmezeit richtig an.
Einer informierte über Neuralrohrdefekt
In der persönlichen Befragung empfahlen 28 (74 Prozent) der Apotheker die Einnahme von Folsäure vor oder während der Schwangerschaft. Davon riet die Hälfte eine prä- und postkonzeptionelle Folsäureeinnahme an. Die andere Hälfte hielt eine postkonzeptionelle Einnahme für ausreichend. Die Folsäure war für 10 (26 Prozent) der Befragten im Rahmen einer Schwangerschaft nicht bedeutsam.
Nach einer Begründung für die Folsäureempfehlung wurde während des Gespräches nicht gefragt. Zwei Apotheker begründeten von sich aus die Einnahmen mit der prophylaktischen Wirkung, und nur ein Apotheker informierte die Fragende über den präventiven Effekt für die Entstehung von Neuralrohrdefekten.
Umsetzung in der Praxis macht Probleme
Die Analyse der Fragebögen zeigt, dass trotz umfassender theoretischer Kenntnisse über die Folsäurewirkung, die Umsetzung in der Praxis Probleme macht. Obwohl 79 Prozent der Befragten Folsäure während der Schwangerschaft für wichtig erachten, die Notwendigkeit einer präkonzeptionellen Einnahme kennen und 39 Prozent Folsäure in Verbindung mit Fehlbildungsprävention bringen, sind es nur etwa ein Drittel der befragten Apotheker, die ihre Kenntnisse an ihre Kunden weitergeben und ein geeignetes Präparat empfehlen.
Ein ähnliches Ergebnis liefert die Testberatung. 37 Prozent der zufällig befragten Apotheker hatten umfassende Kenntnisse über die Folsäure und gaben dosis- und zeitgerechte Empfehlungen. Ein weiteres Drittel erwähnte zwar die Folsäure im Beratungsgespräch, empfahl aber nur die Einnahme nach der Empfängnis. Lediglich zwei Apotheker wiesen auf einen Zusammenhang zwischen Fehlbildungen und Folsäure hin.
Die Analyse der Antworten bezüglich der angegebenen Krankheiten, bei denen eine spezielle Vitamingabe notwendig ist, geht in dieselbe Richtung. Epilepsie, die in diesem Zusammenhang entscheidende Erkrankung, wurde nur von 26 Prozent der Befragten als am wichtigsten erkannt. Die Epilepsie wurde in der Befragung auch deshalb genannt, da einige häufig verordnete Antiepileptika potenziell teratogen wirken. Leider fragte keiner der 38 konsultierten Apotheker nach der Dauermedikation der Ratsuchenden.
Da die Rücklaufrate der Fragebögen nur bei 17 Prozent lag und eine Testberatung nur bei 38 der etwa 600 Apotheker stattfand, ist das Umfrageergebnis weder für Sachsen-Anhalt noch für die Bundesrepublik repräsentativ. Eine ähnliche Untersuchung, die 1996 in München durchgeführt wurde, ergab jedoch vergleichbare Ergebnisse.
In einem "Testgespräch" wurden 21 Apotheker in München interviewt. 38 Prozent der Befragten kannten Einnahmezeit und Dosierung der Folsäurepräparate zur Fehlbildungsprotektion. 28 Prozent der Befragten sprachen sich nur für eine postkonzeptionelle Folsäuregabe aus. Nachdem eine intensive Wissenskampagne zur Folsäure unter Einbeziehung der Apotheker in München stattgefunden hatte, startete man 1998 eine weitere Befragung. Der Anteil der Apotheker, die eine perikonzeptionelle Folsäuregabe befürworteten, war aber leider nicht signifikant angestiegen (12).
Den Autoren ist bewusst, dass bei der Vielzahl der über Apotheken abgegebenen Arzneimittel die Vitamine und hier die Folsäure eher eine untergeordnete Rolle spielen. Dagegen steht die Tatsache, dass immerhin fast 800.000 Frauen pro Jahr in Deutschland eine Schwangerschaft austragen. Bei einer Häufigkeit des Neuralrohrdefekts in unserer Population von etwa 1:1000 sind damit jährlich 800 Kinder von dieser schweren Fehlbildung des Zentralnervensystems betroffen. Durch primäre Prävention mit Folsäure wären 70 Prozent vermeidbar. Unserer Meinung nach ist das Grund genug, die Apothekerschaft zu sensibilisieren. Der qualifizierte Rat im individuellen Kundinnengespräch kann dazu beitragen, dass statt eines schwerbehinderten, ein gesundes Kind geboren wird. Damit würden auch die physisch und psychisch stark belastenden Eingriffe eines Schwangerschaftsabbruchs nach der vorgeburtlichen Diagnostik derartiger Fehlbildungen gegenstandslos werden.
Die Frauen, die eine sichere Kontrazeption absetzen, um schwanger zu werden, sollten umfassend aufgeklärt werden. Als Beitrag zur primären Prävention von Fehlbildungen haben das Fehlbildungsmonitoring und die Apothekerkammer Sachsen-Anhalt ein Merkblatt an alle Apotheken verteilt Die Unterlagen sollen dem pharmazeutischen Personal helfen, gezielt zur Folsäuresubstitution zu beraten.
Ein weiteres Faltblatt mit Hinweisen auf die fehlbildungsvorbeugende Wirkung von Folsäure ist geplant. Die Apotheker werden gebeten, dieses den Frauen auszuhändigen, die ein perorales Kontrazeptivum bei ihnen erwerben. Ein damit verbundener Hinweis, dass der Rat des Arztes oder Apothekers bei Kinderwunsch eingeholt werden kann, soll dazu beitragen, das offensichtliche Wissensdefizit zur Folsäure bei Frauen abzubauen. Die Aufwertung der Apotheker als Multiplikatoren medizinisch wissenschaftlicher Erkenntnisse wäre ein gewollter Nebeneffekt.
Literatur
Für die Verfasser:
Dr. Christine Rösch
Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke Universität
Leipziger Straße 44
39120 Magdeburg
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