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Standardmedikation ist obsolet

20.10.2003  00:00 Uhr
Hyperphosphatämie

Standardmedikation ist obsolet

von Christiane Berg, Hamburg

Hämodialyse-Patienten mit Niereninsuffizienz leiden häufig unter einer behandlungspflichtigen Hyperphosphatämie. Trotz des Wissens um die schweren Nebenwirkungen von calciumhaltigen Phosphatbindern und des Vorhandenseins von Alternativen erhalten nach wie vor neun von zehn Dialysepatienten calciumhaltige Präparate.

In Deutschland sind etwa 62.000 Menschen auf eine regelmäßige Dialyse angewiesen – Tendenz steigend. Die Zahl der Dialysepflichtigen-Patienten wächst jährlich um fünf Prozent. 35 Prozent der Niereninsuffizienzen sind auf einen Diabetes mellitus Typ II, 15 bis 20 Prozent auf eine arterielle Hypertonie zurückzuführen. In der Therapie der terminalen Niereninsuffizienz kommen neben der Hämodialyse die Peritonealdialyse sowie die Nierentransplantation zum Einsatz. Nierenerkrankungen zählen zu den „stillen“ Erkrankungen mit langsam fortschreitendem Verlauf.

Calcifikation erhöht Mortalitätsrisiko

Hämodialyse-Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz leiden häufig unter einer behandlungspflichtigen Hyperphosphatämie. Der krankhaft erhöhte Phosphatspiegel führt zur Verkalkung der Weichteile, Organe, Gefäße und Gelenke und somit langfristig zu lebensbedrohlichen Komplikationen. Die rasch progrediente Gefäßcalcifikation bei Dialysepatienten bleibt nicht ohne Konsequenzen für die kardiovaskuläre Funktion, sagte Professor Dr. Hartmut H. Malluche, Kentucky, Lexington, USA.

So erhöhe die ausgeprägte Calcifikation der Koronarien das kardiovaskuläre Mortalitätsrisikos um den Faktor 20. Auch führe die generelle Abnahme der Blutgefäßelastizität durch harte Calciumphosphatablagerungen zu einem erhöhten Kraftaufwand für das Herz. Dieses muss immer mehr Arbeit leisten, um das Blut in das zunehmend starre und steife Gefäßsystem zu pumpen, machte der US-amerikanische Nephrologe deutlich. Langfristig gehe das mit einer Schädigung des Herzmuskels einher. An Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben 45 Prozent aller Dialyse-Patienten.

Malluche verwies auf die calcium- und aluminiumhaltige Phosphatbinder, die zum Abfangen des Phosphates aus der Nahrung eingesetzt wurden und immer noch werden, um so die Aufnahme des Minerals in den Körper zu verhindern. „Erst sehr spät haben wir gemerkt, dass wir den Patienten damit keinen Gefallen tun“, sagte der Referent. So führe das Aluminium nach Resorption und Akkumulation zu schweren toxischen Nebenwirkungen bis hin zu Osteomalazie, Schädigungen des zentralen Nervensystems und Demenz. Bei Gabe calciumhaltiger Phosphatbinder komme es bei circa 40 Prozent der Patienten zu einer risikoreichen Hypercalcämie, die wiederum Ablagerungen in der Gefäßwand und die Gefahr der Calcifikation der Koronarien, der Aorta sowie der Mitral- und Aortenklappen mit sich bringt.

Senkung von Folgekosten

Malluche hob als therapeutische Option Selvelamer-Hydrochlorid (Renagel®) hervor, das in den USA seit 1998 und in Europa seit 2000 auf dem Markt ist. Der aluminium- und calciumfreie Phosphatbinder enthält ein Polymer, das aus dem Gastrointestinaltrakt nicht resorbierbar ist. Es besteht zu 40 Prozent aus Aminhydrochlorid und zu 60 Prozent aus freiem Amin. Studien haben gezeigt, dass die Gefäßcalcifikation bei Patienten, die mit calciumhaltigen Phosphatbindern behandelt wurden, deutlich zunahm, während sie bei Probanden, die das calcium- und metallfreie Selvelamer-Hydrochlorid erhielten, signifikant gebremst werden konnte.

Malluche machte deutlich, dass die Therapie mit Sevelamer- Hydrochlorid die bei Dialyse-Patienten erhöhte kardiovaskuläre Morbididät und Mortalität senken und die damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten zum Beispiel durch Hospitalisation reduzieren kann.

Aluminium- und calciumfrei

Auch Professor Dr. Oliver Schöffski, Erlangen-Nürnberg, äußerte sein Unverständnis, dass trotz Existenz eines calcium- und aluminiumfreien Phosphatbinders, die preisgünstigen, jedoch bedenklichen Vorläufer, weiterhin als Standardmedikation gelten und nach wie vor neun von zehn Dialysepatienten calciumhaltige Phosphatbinder erhalten. Schöffski nannte es fatal, dass „budgetäre Restriktionen den Einsatz innovativer Präparate verhindern, zumal wenn diese nur scheinbar teurer, jedoch letztlich auf Grund geringerer Folgekosten kostengünstiger sind“.

Neueste Untersuchungen zeigen, dass nicht nur der komplette, sondern schon der 50- bis 60-prozentige Verlust der Nierenfunktion mit einer deutlich erhöhten kardiovaskulären Mortalität und Morbidität einhergeht. Es ist von einer hohen „Dunkelziffer“ gerade bei Diabetikern und Hypertonikern auszugehen, sagte Professor Dr. med. Rolf A. K. Stahl, Hamburg-Eppendorf. Top

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