Diabetes-Zeitbombe tickt weiter |
13.09.1999 00:00 Uhr |
Vor 10 Jahren verabschiedeten Vertreter der Patienten, Kostenträger, Politik und Ärzteschaft unter Schirmherrschaft der WHO und der Internationalen Diabetesförderation die St. Vicent-Deklaration. Ziel des gesundheitspolitischen Manifests: Die Bevölkerung sollte künftig für die Krankheit sensibilisiert, Diabetiker intensiver geschult und bessere Therapiekonzepte erarbeitet werden. Hillenbrand bezeichnete auf einer Presseveranstaltung von Takeda Pharma am 8. September in Aachen die Bilanz als ernüchternd. Das Ziel, die Zahl der Amputationen über fünf Jahre zu halbieren, habe man sogar nach der doppelten Zeit nicht mal annähernd erreicht. Hillebrand schiebt das nicht auf einen schlechten medizinischen Standard. "Vielmehr fristet die Epidemiologie im deutschen Gesundheitswesen ein kümmerliches Dasein und jegliche Bemühungen werden auf das heftigste bekämpft", beklagte er. Zwar lägen inzwischen ausführliche Patientendaten vor, diese würden aber meist schlecht ausgewertet.
Zudem sähen viele Fachärzte die Stoffwechselkrankheit nach wie vor durch die "Typ-1-Brille". Ein Typ-2-Diabetes würde häufig verniedlicht und nicht früh genug adäquat behandelt. Es bestehe jedoch dringender Handlungsbedarf, da die Zahl der Erkrankungen und damit die Folgekosten weiter steigen. Der Grund: Die Alterspyramide verschiebt sich weiter und die Glucosetoleranz nimmt im Alter ab. Laut Studien müsse zudem von einer beträchtlichen Zahl nicht erkannter Diabetiker ausgegangen werden; und entsprechend den neuen WHO-Kriterien sei die Diabeteshäufigkeit in Deutschland bereits heute auf 7,5 Prozent zu korrigieren.
Inzwischen gäbe es endlich auch von Seiten der Krankenkassen Bestrebungen, die Versorgung flächendeckend zu verbessern, sagte Hillenbrand. Diese müsse auf den drei Säulen Schulung, Gesundheitspass für Diabetiker und frühe Vorsorge gegen Folgekrankheiten basieren. Der Ökonom: "St. Vincent war bis dato eine Enttäuschung, die Deklaration wird zwar umgesetzt, aber erst 10 Jahre später."
Auch die Ergebnisse einer von Takeda initiierten Befragung belegen, dass bei der Diabetikerversorgung noch einiges im Argen liegt. Bei 4 von 10 Typ-2-Diabetikern fehlten sowohl aktuelle Nüchtern-Glucose- als auch HbA1c-Werte. Eine qualitative Beurteilung der Stoffwechseleinstellung war also nicht möglich, so Dr. Anja Lütke, Takeda. Zudem hatten 37,5 Prozent der Patienten, von denen Daten vorlagen, Nüchternblutzucker-Werte über 160 mg/dl, und 28 Prozent einen HbA1c-Wert über 8 Prozent. Die Ergebnisse demonstrierten eindrucksvoll, dass die Diabetikerversorgung noch ein erhebliches Verbesserungspotential ausweist.
Schon bald könnte ein neues gut wirksamer und verträglicher Arzneistoff die Typ-2-Therapie bereichern, so Professor Dr. Burkhard Göke vom Inselspital der Universität Bern. Mitte Juli erhielt der Insulinsensitizer Pioglitazon die US-amerikanische Zulassung. Mit dem o.k. der europäischen Behörden und der deutschen Markteinführung rechnet Hersteller Takeda Anfang 2000. Die Glitazone senken die Insulinresistenz von Fett-, Muskel und Leberzellen, reduzieren damit die Blutzuckerwerte und verbessern den Glucosestoffwechsel.
Göke stellte erste Daten einer deutschen Untersuchung vor. In einer randomisierten Doppelblindstudie erhielten 252 Typ-2-Diabetiker über 26 Wochen einmal täglich entweder 15 beziehungsweise 30 mg Pioglitazon oder Placebo. Zusätzlich hielten die Patienten antidiabetische Diät. Unter 30 mg sank der HbA1c-Wert um 1,05 Prozent. Wurden die Daten um den Diäteffekt korrigiert, ergab sich ein Minus um 0,56 Prozent. Der Insulinsensitizer wurde gut vertragen, in keinem Fall zeigten sich Leberenzymveränderungen, so Göke.
Neben der Blutzuckersenkung verbessere Pioglitazon auch die Blutfettwerte. Die Konzentrationen freier Fettsäuren und Triglyceride sinken, während die HDL-Cholesterolwerte steigen. "Wir erwarten langfristig auch einen positiven Effekt auf das atherogene Risikoprofil", sagte der Referent.
Trotz ermutigender Ergebnisse zwängen die negativen Erfahrungen mit dem strukturverwandten Troglitazon jedoch zu penibler Sorgsamkeit. Nachdem schwere Leberfunktionsstörungen aufgetreten waren, zog der Hersteller seinen Zulassungsantrag in Großbritannien zurück. Beim Pioglitazon beobachteten Mediziner die negativen Effekte bislang nicht. Das Patientenkollektiv der deutschen Studien sei sehr gut internistisch untersucht worden und damit für die später breite Anwendung sicherlich noch nicht repräsentativ, so Göke.
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