Drogenentzug im Schlaf |
19.07.1999 00:00 Uhr |
Opiatentzug unter Narkose ist keine Blinddarmoperation. Nach einigen Tagen kann der Patient zwar das Krankenhaus verlassen, doch die Therapie geht weiter. Die Narkose hilft dem Patienten, besonders die körperlichen Entzugserscheinungen zu ertragen. Die Sucht selbst aber bleibt, sie hat sich über konditionierte Reize in das Gehirn eingegraben. Dem Entzug muß daher die Entwöhnung folgen, eine psychotherapeutische Betreuung, meist unterstützt durch eine Naltrexon-Therapie.
Wie wird der Narkoseentzug durchgeführt? Die Frage ist kaum zu beantworten. Auf einem Internationalen Symposium in Berlin wurde deutlich, daß es fast so viele Methoden gibt wie Ärzte, die sie anwenden. Hinzu kommt, daß Drogenabhängige eine höchst inhomogene Gruppe von Patienten sind. Welche Drogen nehmen sie ein? Seit wann sind sie abhängig? Wie ist ihr soziales Umfeld? Wie ihre körperliche Verfassung? Unter diesen Voraussetzungen ist es schwierig, den Königsweg zu finden, da die einzelnen Studien nur schwer untereinander vergleichbar sind. Hinzu kommt, daß nicht alle Wissenschaftler kooperativ zusammenarbeiten.
"Der Trend in der Suchttherapie ist die Differenzierung", sagte Professor Dr. Michael Krausz vom Universitätskrankenhaus in Hamburg Eppendorf. Einen Königsweg gebe es nicht. Ob kalt oder warm, mit und ohne Narkose, ob mit Methadon oder mit Buprenorphin - es gibt viele Wege aus der Sucht. "Je differenzierter die Gedanken sind, die man sich macht, desto höher ist der Erfolg."
Vor dem Entzug die Nachbetreuung klären
Nach Meinung von Dr. Dr. Dr. Felix Tretter, Psychiater am Bezirkskrankenhaus Haar bei München, kommt der Narkoseentzug nur für einen geringen Teil der Süchtigen (10 bis 20 Prozent) in Frage. Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen werden nicht angenommen. Wer außer Opiaten sehr viele andere Drogen, zum Beispiel Benzodiazepine oder Alkohol, konsumiere, könne nicht unter Narkose entzogen werden, meint Tretter. Es gibt aber auch andere Meinungen. Einig sind sich alle Ärzte darüber, daß vor dem Entzug die psychotherapeutische Nachbetreuung des Drogenabhängigen geklärt und sein soziales Umfeld einigermaßen stabil sein muß.
Vor allem gut eingestellte Methadon-Patienten würden unter Narkose entzogen, sagte Tretter. Meist schafften es die Patienten, die normale Dosis von 100 mg auf 5 mg Methadon zu reduzieren. Doch an dieser Grenze würden viele rückfällig.
Nach Vorauswahl, Voruntersuchungen und Vorgesprächen kommen die Patienten einen Tag vor der Narkose in das Krankenhaus. Die Patienten bleiben nach der Narkose ein bis zwei Tage auf der Intensivstation und im Durchschnitt noch eine Woche im Krankenhaus.
Variabel sind nicht nur Dosierungen oder Medikamente, die zur Milderung der Symptome gegeben werden. Teilweise wird statt schnell wirksamem Naloxon sofort orales Naltrexon gegeben. Manche Ärzte sedieren die Patienten nur, anästhesieren sie aber nicht. Einige schicken die Patienten sofort oder am nächsten Tag nach Hause, manche behandeln ambulant. Einige dieser Verfahren wurden auf dem Symposium vorgestellt. Tretter warnt davor, ohne Beatmung und Magensonde ausschließlich zu sedieren, zum Beispiel mit Diazepam. Muß der Patient entzugsbedingt erbrechen, kann der Mageninhalt über den Schlauch abfließen. Der Patient läuft nicht Gefahr, das Erbrochene reflexartig in die Lunge einzuatmen.
Von 108 Patienten des Bezirkskrankenhauses Haar waren nach einem Monat rund 50 abstinent geblieben, nach sechs Monaten waren es 33 Prozent und nach einem Jahr 25 Prozent der Patienten.
Naltrexon verkürzt, aber verschlimmert den Entzug
Naltrexon ist ein Opiatantagonist, der andere Opiate vom Rezeptor verdrängt. Ein kalter Opiatentzug (die Droge wird einfach abgesetzt) dauert fünf bis acht Tage. Mit Naltrexon werden schwere Entzugserscheinungen verkürzt, sie sind allerdings sehr viel schlimmer als beim Kaltentzug. Ohne Narkose könne es zum Beispiel zu lebensgefährlichen Krämpfen kommen, erklärte Professor Dr. Walter Zieglgänsberger vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München.
In abgeschwächter Form haben dreißig Prozent der Patienten bis zu einem Monat nach der Anästhesie Entzugserscheinungen, sagte Tretter. Noch können die Ärzte nicht vorhersagen, bei welchen Patienten das so ist. Tretter befragte seine Rückfall-Patienten nach den Gründen. Die Hälfte gab Entzugserscheinungen an; ein Drittel wollte die Methode nicht noch einmal ausprobieren.
Naltrexon wird vom Entzug an dauerhaft gegeben; versucht der Patient sich wieder an Heroin, wirkt es nicht. Setzt er Naltrexon ab und nimmt ein Opiat in gewohnter Menge, kann er gefährlich überdosieren, da der Körper die Dosis nicht mehr gewohnt ist. Es gibt kaum Erfahrungen mit Naltrexon an gesunden Probanden. Daher sei es schwer abzuschätzen, was Nebenwirkungen des Opiat-Antagonisten und was Entzugserscheinungen sind, erklärte Tretter. Nicht geklärt ist, ob Naltrexon Depressionen verstärkt und die Suizidrate erhöht.
Zunehmend bekommen die Patienten auch Naltrexon-Implantate. Auf die Suizidgefahr ist dann besonders zu achten, da der Patient das Medikament nicht alleine absetzen kann. Andererseits halten so mehr Patienten den ersten und gefährlichsten Monat durch. Wie Dr. Colin Brewer, Stapleford Trust London, berichtete, werden während der Narkose Pellets in den Unterbauch oder auf der Armrückseite unter die Haut implantiert. Ein Gramm des Arzneistoffes reicht für mindestens fünf Wochen. Von 193 Patienten bekamen 41 Prozent ein zweites Implantat, 18 Prozent ein drittes, fünf Prozent hatten fünf Implantate und ein Patient hatte über zwei Jahre 15 Implantate bekommen, berichtete Brewer.
Entzug mit Buprenorphin
In Frankreich wird sehr viel mit Buprenorphin substituiert. Die erforderlichen Dosen lägen zwischen 8 und 12 mg, sagte Dr. I. Kutz von der Universität in Tel-Aviv. Seiner Erfahrung nach ist Buprenorphin auch zum Entzug geeignet. Da es teils antagonistisch, teils agonistisch wirke, seien die Entzugserscheinungen erträglich. Er gab zehn Patienten 32 mg Buprenorphin sublingual über 30 Minuten. Nach einer Stunde seien die schwersten Entzugserscheinungen vorbei gewesen, berichtete Kutz.
Das Suchtgedächtnis
Naltrexon wird nach dem Entzug weitergegeben. Der Patient wird - falls er rückfällig wird - vor erneuter körperlicher Abhängigkeit geschützt, während er lernt, sich von der psychischen Abhängigkeit zu befreien.
Bei anhaltendem Drogenkonsum kommt es zu langfristigen molekularen Veränderungen im Gehirn, erklärte Zieglgänsberger. Der Körper wird konditioniert, auf bestimmte Reize hin mit Drogenhunger zu reagieren. Nicht die Substanz selbst, sondern die Wirkung der Substanz gekoppelt an bestimmte Reize aus dem Umfeld führen zur Sucht. Wer mit Gewalt gezwungen wird, Alkohol zu trinken, wird nicht süchtig. Wer Opiate gegen Schmerzen in festem Rhythmus und als Retardpräparat bekommt, wird auch nicht süchtig.
Die Umgebung und die Umstände, unter denen Drogen genommen werden, spielen eine große Rolle. Aus diesem Umfeld muß der Patient sich befreien, um nicht ständig bestimmten Reizen ausgesetzt zu sein. Er muß umlernen, um adäquat auf solche Reize zu reagieren und für Probleme und Ängste mehr als nur einen Lösungsweg zu sehen. Doch das ist nicht in einer Woche getan. Sechs Monate sollte die Naltrexon-Therapie mindestens dauern, meinte Tretter. Wann der Patient ohne diese Stütze leben kann, entscheide er dann letztlich selbst.
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