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Entzug ist keine passive Angelegenheit

21.03.2005  00:00 Uhr
Benzodiazepine

Entzug ist keine passive Angelegenheit

von Désirée Kietzmann, Berlin

Medikamentenabhängigkeit rangiert nach dem Alkoholismus auf Platz 2 der Suchtkrankheiten. Wie eine Benzodiazepin-Abhängigkeit entstehen und therapiert werden kann, erklärte Dr. Rüdiger Holzbach, Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin der Westfälischen Kliniken Warstein und Lippstadt, im Gespräch mit der PZ.

PZ: Werden Benzodiazepine bestimmungsgemäß über einen kurzen Zeitraum eingenommen, besteht nach Aussagen von Suchtexperten keine Gefahr. Zum Risiko werden sie erst, wenn sie länger als sechs Monate regelmäßig eingenommen werden. Wie kommt das hohe Abhängigkeitspotenzial dieser Arzneistoffklasse zu Stande?

Holzbach: Die Menschen streben danach, sich wohl zu fühlen. Diese Medikamente lösen unmittelbar Wohlbefinden aus. Pharmakologisch betrachtet, greifen die Benzodiazepine über den GABA-Rezeptor ins Belohnungssystem ein und entwickeln darüber, wie alle anderen stoffgebundenen Suchtstoffe, die Abhängigkeit.

PZ: Wer ist besonders häufig betroffen?

Holzbach: Es handelt sind vor allem um Frauen in der zweiten Lebenshälfte, die einsam sind, weil zum Beispiel die Kinder aus dem Haus sind oder die Beziehung nicht mehr besteht. Die daraus resultierenden Beschwerden werden in der Regel vom Arzt mit Benzodiazepinen behandelt. Die drei häufigsten Grunderkrankungen, die zu einer Abhängigkeit führen können sind Ängste, Schlafstörungen und Depressionen.

PZ: Welche Beschwerden treten bei einer längerfristigen Benzodiazepin-Anwendung auf?

Holzbach: Im Kern sind es drei Symptome. Als Erstes ist die geistige Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Die Patienten können sich nicht mehr so gut konzentrieren, werden vergesslich. Der zweite Punkt ist die affektive Veränderung. Die Betroffenen können sich weder richtig freuen, noch richtig traurig sein. Weiterhin fehlt die körperliche Energie. Daneben treten Appetitlosigkeit, Muskelschwäche und eine herabgesetzte Fähigkeit zur Selbstkritik auf. Ungewohnte Situationen und das Thema Medikamente werden gemieden. Typisch ist die Wirkumkehr im Laufe der Behandlung. Das bedeutet, dass die Medikamente nicht mehr gegen Schlafstörungen eingenommen werden, sondern um durch den Tag zu kommen.

PZ: Wie gestaltet sich die Therapie?

Holzbach: Am Anfang steht der Entzug. Wir stellen die Patienten zunächst alle auf die äquivalente Menge Oxazepam um. Dann wird stufenweise reduziert. Bei Hochdosisabhängigkeit, also über 20 mg Diazepam-Äquivalenzdosis am Tag, geben wir zusätzlich Carbamazepin, was die typischen Entzugssymptome abmildert.

Im zweiten Schritt müssen die Patienten viel über sich und ihre Erkrankung lernen. Unser Ziel ist es, sie zu aktivieren, denn der Entzug ist keine passive Sache. Wir bieten den Medikamentenabhängigen in unserer Klinik eine eigene Gruppenbehandlung an, in der sie die Möglichkeit haben, mit anderen Betroffenen ihre Erfahrungen auszutauschen. Der rein stationäre Entzug dauert drei bis sechs Wochen. Je nachdem, ob eine der erwähnten Grunderkrankungen vorliegt, sind nach dem Entzug diese psychischen Leiden zu behandeln. Dadurch schließen sich dann noch längere Zeiten an.

PZ: Welche Entzugserscheinungen treten auf, und wie gehen Sie auf der Station damit um?

Holzbach: Es gibt zunächst die unspezifischen Entzugserscheinungen wie Schlafstörungen, Ängste, Stimmungsschwankungen, Muskelschmerzen und Zittern. Zusätzlich treten Überempfindlichkeiten gegenüber Geräuschen, Licht, Geruch und Berührungen auf. Besonders beängstigend für die Patienten sind die qualitativen Wahrnehmungsveränderungen. Es kommt zu Veränderungen in der Wahrnehmung des eigenen Körpers, von Bewegungen, Zeit, Hören und Sehen. Wenn diese Situation die Patienten unerwartet trifft, haben sie häufig das Gefühl, sie würden verrückt. Unser speziell geschultes Personal versucht deshalb, die Patienten auf diese Situationen vorzubereiten.

PZ: Wie viele Patienten beenden den Entzug erfolgreich, und wie hoch ist die Rückfallquote?

Holzbach: Die Haltequote liegt bei circa 90 Prozent. Bei den Abbrechern ist der Suchtdruck häufig zu hoch oder sie können sich mit dem Behandlungsangebot nicht anfreunden, weil sie zu passive Vorstellungen vom Entzug haben. Der dauerhafte Erfolg ist sehr stark abhängig von der Grundproblematik und der Bereitschaft der Patienten, diese anzugehen. Wenn es zum Beispiel um eine Angststörung geht und die Patienten sich auf eine entsprechende Verhaltenstherapie nicht einlassen können, ist das Risiko für einen Rückfall vergleichsweise hoch. Reine Schlafstörungen kann man relativ einfach schon neben dem Entzug in den Griff bekommen. Wir arbeiten hier erfolgreich mit Akupunktur, Schlaftees und schlafhygienischer Beratung. Nach meiner Erfahrung kommt ein ganz großer Teil der Patienten allein über die Beratung und die konsequente Anwendung von schlafhygienischen Regeln mit Schlafstörungen zurecht. Top

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