Mosaiksteine pflastern den Weg zum Wirkmechanismus |
28.02.2000 00:00 Uhr |
Obwohl Johanniskraut zu den am besten untersuchten Phytopharmaka zählt, ist der Wirkmechanismus unter Fachleuten umstritten. Die Frage, welchen Anteil die einzelnen Inhaltsstoffe an der antidepressiven Wirkung haben, spaltet die Protagonisten der Phytopharmakaforschung.
Zumindest für pflanzliche Arzneimittel ist die Intensität, mit der dieser Disput geführt wird, einzigartig. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die im lipophilen Hyperforin die wichtigste Wirksubstanz sehen. Ihnen steht eine wohl etwas kleinere Fraktion gegenüber, die die Bedeutung der anderen Inhaltsstoffe höher bewertet und der ersten Gruppe Einseitigkeit vorwirft.
Es gibt gute Gründe dafür, warum die Forscher immer noch im Trüben fischen. Depressionen sind ein extrem schwieriges Forschungsgebiet, denn ihre exakten Ursachen sind noch nicht aufgeklärt. Ein sehr großer Placeboeffekt erschwert in dieser Indikation die Bewertung klinischer Studien. Und schließlich enthält der Johanniskraut-Extrakt eine ganze Reihe von Substanzen, die in vitro zahlreiche physiologische Effekte haben.
Professor Dr. Walter E. Müller sieht im Hyperforin zumindest einen der wichtigsten Extraktbestandteile. Die Substanz greife in den Neurotransmitter-Stoffwechsel im Gehirn ein und trage so zur Verbesserung der klinischen Symptome einer leichten bis mittelschweren Depression bei, sagte der Pharmakologe auf einem Symposium in Frankfurt am Main.
Nach seinen Untersuchungen ist Hyperforin maßgeblich für die monoaminerge Wiederaufnahmehemmung verantwortlich. Der Pharmakologe hat in Versuchen mit kultivierten Thrombozyten festgestellt, dass Johanniskraut-Extrakt die intrazelluläre Natriumkonzentration erhöht und 10 µM Hyperforin denselben Effekt hat.
Johanniskraut erhöht Natriumkonzentration
Der Anstieg der intrazellulären Natriumkonzentration entzieht den Zellen die Energie für die Wiederaufnahme der Transmitter aus dem synaptischen Spalt, erläuterte Müller. Dieser Prozess erfolge nämlich über einen Symport von drei Natriumionen mit einem Transmittermolekül, wobei die treibende Kraft der Gradient zwischen einer hohen extrazellulären und einer niedrigeren intrazellulären Natriumkonzentration ist. Steigt im Zellinneren die Konzentration, fällt die Energiequelle weg.
Im Gegensatz zu selektiven Wiederaufnahmehemmern wirke Hyperforin und Johanniskraut-Extrakt deshalb nicht spezifisch auf die Wiederaufnahmetransporter. Die Wiederaufnahme der drei monoaminergen Transmitter Dopamin, Serotonin (5-HT) und Noradrenalin werde beeinträchtigt.
Unterstützt werden Müllers Ergebnisse von Joseph Neary. Seine Untersuchungen am Medical Center von Miami bestätigen die Wiederaufnahmehemmung für Noradrenalin und Serotonin in Astrozytenkulturen. Der US-amerikanische Forscher identifizierte ebenfalls Hyperforin als die wirksame Substanz.
Indirekte Schützenhilfe für die Natrium-Theorie lieferte in Frankfurt Jens Langosch von der Psychiatrischen Klinik der Universität Freiburg. Er hat festgestellt, dass sowohl Hyperforin als auch Hypericum-Extrakt die Erregbarkeit von Nervenzellen im Hippocampus erhöhen. Dies könnte auf die Erhöhung der intrazellulären Natriumkonzentration und das damit verbundene niedrigere Potenzial der Nervenzellmembranen zurückzuführen sein.
Im Widerspruch zu diesen Untersuchungen stehen die Resultate von U. E. Honnegger, Universität Bern. In Astrozytenkulturen konnte er zeigen, dass Hypericum-Extrakt sowohl die Zahl der b-Adrenozeptoren reduziert als auch die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin hemmt. Effektiv war in seinen Untersuchungen jedoch nur der Gesamtextrakt. Hyperforin oder Hypericin allein hatten keinen Effekt.
Ohnehin muss die Wiederaufnahmehemmung nicht der einzige Ansatz für die antidepressive Wirkung von Johanniskraut sein. Wie Urs Simmen vom pharmazeutischen Institut der Universität Basel berichtet, interagieren die Bestandteile des Extraktes mit einer Reihe von Rezeptoren für Neurotransmitter und Neuromodulatoren.
So binden Hyperforin und Hypericin an die Serotoninrezptoren 5-HT vom Subtyp 6 und 7, die mit Depressionen in Verbindung gebracht werden; an Opioidrezeptoren bindet Hyperforin besser als Hypericin; Hypericin-exklusiv ist dagegen die Wirkung auf den Rezeptor des Cortisol-Freisetzungsfaktors (CRF); an GABAA-Rezeptoren bindet eine nicht näher identifizierte wasserlösliche Komponente des Extraktes und Johanniskrautflavonoide interagieren schwach mit dem a-Estrogenrezeptor.
Auch Flavonoide und Procyanidinev wirken antidepressiv
Effekte der Flavonoide hat die Münsteraner Pharmakologin Professor Dr. Hilke Winterhoff auch im Tierversuch mit Ratten gefunden. Im Porsolt-Schwimmtest, einem anerkannten Depressionsmodell, erwiesen sich verschiedene Flavonoide aus dem Johanniskraut-Extrakt als wirksam. Darüber hinaus könnten auch Procyanidine zur antidepressiven Wirkung beitragen. Wie Winterhoff feststellte, sind diese in Kombination mit Hypericin im Porsolt-Test erfolgreich.
Ein weiterer Kandidat für Wirkungen des Johanniskrauts ist das Neuropeptid Substanz P. Wie Bernd Fiebich von der Universität Freiburg berichtete, hemmt der Extrakt in vitro die Substanz-P-induzierte Synthese von Interleukin-6. Dies könne nicht nur die antiinflammatorischen Effekte von Johanniskraut erklären, sondern auch einen Teil der antidepressiven Wirkung, so Fiebich. Substanz P bindet an den Neurokinin-1-Rezeptor, der in einem Zusammenhang mit Depressionen stehen soll. Von chemischen Antidepressiva sei ebenfalls bekannt, dass sie mit diesem Rezeptor interagieren.
In vivo beeinflusst die Modulation des Monaminstoffwechsels möglicherweise auch die Hormonsekretion. Allerdings sind die in Frankfurt vorgestellten Daten widersprüchlich. Mike Franklin, Universität Oxford, stellte in Versuchen mit gesunden Freiwilligen fest, dass zwei Stunden nach der Gabe von Hypericum-Extrakt die Plasmakonzentration des Wachstumshormons ansteigt und die Prolactinkonzentration sinkt. Cortisol blieb unverändert. Im Gegensatz dazu registrierte G. Laakmann, Universität München, bei gesunden Probanden einen Anstieg des Plasma-Cortisols, während er für Wachstumshormon, Prolactin und ATCH keine signifikanten Veränderungen fand.
Weitgehend widerlegt ist die Theorie, dass Johanniskraut-Extrakt die Monoaminoxidase hemmt und so den Abbau von Serotonin, Dopamin und Noradrenalin bremst. Der kanadische Wissenschaftler Peter H. Yu konnte in Mäusehirnen keine Veränderung des Transmitterabbaus nach Behandlung mit Hypericum-Extrakt nachweisen.
Lassen sich den einzelnen Extraktkomponenten bei In-vitro-Tests noch definierte Wirkungen zuordnen, in klinischen Studien ist dies kaum noch möglich. Vor allem an der Frage, ob Hyperforin-reicher Extrakt besser wirkt als Hyperforin-armer scheiden sich die Geister.
In einer dreiarmigen Studie an der Psychiatrischen Klinik der Universität München haben Wissenschaftler jeweils 49 Probanden mit leichter bis mittelschwerer Depression über sechs Wochen mit Placebo, Hyperforin-armen (0,5 Prozent) oder Hyperforin-reichen (5 Prozent) behandelt. Die größte Verbesserung zeigten die Patienten, die mit Hyperforin-reichem Extrakt behandelt wurde. Der Hamilton-Score als Maßstab für die Schwere der Depression sank in dieser Gruppe um durchschnittlich 10,3 Punkt. Die Placebogruppe verbesserte sich um 7,9 Punkte, dazwischen lagen die Probanden, die mit Hyperforin-armen Extrakt behandelt wurden (8,5 Punkte). Signifikant war lediglich der Unterschied zwischen Hyperforin-reichem Extrakt und Placebo.
Parteien sind unversöhnlich
Bei der Interpretation des Ergebnisses stehen sich Anhänger und Gegner der Hyperforin-Theorie fast unversöhnlich gegenüber. Während die Firma Schwabe, von der die Extrakte stammen, die Studie als klaren Beweis für die Überlegenheit Hyperforin-reicher Extrakte sieht, kritisiert der Münsteraner Professor Dr. Adolph Nahrstedt mangelnde Transparenz. Das Unternehmen verschweige, wie der Hyperforingehalt auf 0,5 Prozent reduziert wurde. Der Wert ist für Johanniskraut-Extrakt ungewöhnlich niedrig. Nahrstedt hält es für denkbar, dass zusammen mit dem Hyperforin auch der Gehalt anderer Komponenten im Extrakt reduziert wurde.
Von einem Konsens waren beide Lager auch am Ende der Veranstaltung weit entfernt. Auf Grund der intensiven Johanniskraut-Forschung sind mittlerweile zwar eine beachtliche Menge an Erkenntnissen zusammengekommen. Bislang sind dies jedoch lediglich einzelne Mosaiksteine, die zu einem klaren Bild erst noch zusammengefügt werden müssen.
Antimikrobielle Effekte Traditionell werden Johanniskraut-Zubereitungen seit langem zur Behandlung von Wunden, Schwellungen oder Verbrennungen verwendet. Einen ersten Anlauf, dieses Einsatzgebiet wissenschaftlich zu untermauern, stellte Professor Dr. Jürgen Reichling, Universität Heidelberg vor. Er testete die Wirkung von handelsüblichen Johanniskraut-Tees, die er nach der Herstellervorschrift zubereitet. Dabei zeigte sich eine bakterizide Wirkung, die allerdings auf grampositive Keime beschränkt war. Gramnegative Erreger blieben unversehrt.
Johanniskraut und Alzheimer
Wie Professor Dr. Dieter Marmé von der Freiburger Klinik für Tumorbiologie berichtet,
induziert Hyperforin in vitro die Bildung der Proteinkinase C. Diese Kinase stimuliert das
Enzym a-Sekretase, die die Bildung der Amyloidplaques bei
Alzheimer-Patienten vermindert. Im Gegensatz zur a-Sekretase
fördern b- und g-Sekretase die Faltung des
Amyloid-Precursor-Proteins zu unlöslichen Plaques. Diese Enzyme werden von Hyperforin
nicht beeinflusst..
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