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Attacke im Nervensystem

09.09.2002  00:00 Uhr

Neuropathische Schmerzen

Attacke im Nervensystem

von Brigitte M. Gensthaler, München

Amputierte Gliedmaßen können unerträgliche Schmerzen zurücklassen und scheinbar verheilte Läsionen einer Gürtelrose den Patienten mit brennenden Schmerzen quälen. Die Liste der Auslöser von neuropathischen Schmerzen ist lang. Die Therapie erfordert von Arzt und Patient viel Zeit und Geduld.

Neuropathische Schmerzen entstehen nach einer Schädigung der nozizeptiven Systeme, das heißt des peripheren und zentralen Nervensystems. Dies geschieht durch mechanische, metabolische, toxische und entzündliche Verletzungen peripherer Nerven oder durch Läsionen im zentralnervösen System. Dagegen treten nozizeptive Schmerzen nach Gewebetraumen auf, bei denen die neuronalen Strukturen der Nozizeption intakt sind. Hierzu gehören beispielsweise chronische Entzündungs- sowie Eingeweideschmerzen, Rücken- und Tumorschmerzen. Mischformen entstehen, wenn etwa ein unkontrolliert wachsender Tumor Nervengewebe zerstört.

Etwa ein Fünftel der Patienten leidet nach Operationen unter lang, zum Teil sogar lebenslang anhaltenden neuropathischen Schmerzen. Phantomschmerzen quälen sechs von zehn Patienten nach einer Gliedmaßen-Amputation. Weitere Auslöser sind Virusinfektionen wie die Gürtelrose, Nervendegeneration zum Beispiel infolge von Alkoholismus oder Diabetes mellitus und die Einnahme Nerven schädigender Substanzen.

Typische Beispiele sind die postzosterische Neuralgie, diabetische Polyneuropathien, posttraumatische Neuropathien und zentrale Schmerzen nach ischämischen Hirninfarkten, Rückenmarksverletzungen oder bei Multipler Sklerose. Die Patienten klagen häufig über brennende Spontanschmerzen, einschießende Attacken sowie gesteigerte Schmerz- und Berührungsempfindlichkeit (Hyperalgesie).

Das dreistufige Schema der WHO, das zunächst für die Therapie von Tumorschmerzen entwickelt wurde, gilt inzwischen auch in der allgemeinen Schmerztherapie. Bei neuropathischen Schmerzen werden zusätzlich Antidepressiva oder Antikonvulsiva eingesetzt, bei unzureichender Wirksamkeit eine Kombination aus beiden. Ergänzend helfen psychologische Verfahren wie Entspannungstechniken und Gesprächstherapie sowie Krankengymnastik.

Wenig Daten

Die Datenlage zum Einsatz von Medikamenten bei neuropathischen Schmerzformen ist eher dünn, stellten Privatdozent Dr. Dr. Thomas Tölle, München, und Professor Dr. Ralf Baron, Kiel, fest. Beide sind Sprecher des Deutschen Forschungsverbundes Neuropathischer Schmerzen (DFNS). Sie bewerteten die Arzneistoffe anhand der „number needed to treat“ (NNT, siehe Glossar), die sich in etwa 50 randomisierten doppelblinden und placebokontrollierten klinischen Studien ergab.

 

Glossar NNT: Die „number needed to treat“ bezeichnet die Anzahl der Patienten, die mit einer Substanz behandelt werden müssen, um bei einem Patienten eine Schmerzlinderung um mindestens 50 Prozent zu erreichen.

NNH: Die „number needed to harm“ gibt an, wie viele Patienten behandelt werden müssen, bis einer über relevante Nebenwirkungen klagt.

NNQ: Die „Number needed to quit“ erfasst die Patienten, die die Therapie wegen Nebenwirkungen abbrechen.

 

Am besten untersucht sind die Effekte bei diabetischer Polyneuropathie (PNP) und Post-Zoster-Neuralgie. Die meisten Daten liegen für trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin, Clomipramin, Desipramin, Imipramin, Maprotilin, Paroxetin, Fluoxetin, Citalopram) und Ionenkanalblocker wie Carbamazepin, Phenytoin, Mexiletin, Lamotrigin und Gabapentin vor, recherchierten Tölle und Baron.

Studien ergaben für Antidepressiva eine NNT von 3 bei diabetischer PNP, von 2,3 bei Post-Zoster-Neuralgie, von 2,5 bei peripheren Nervenschäden und von 1,7 bei zentralen Schmerzen nach Schlaganfall. Am besten schnitten Trizyklika ab, die die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt in das Neuron hemmen (zum Beispiel Amitripylin). Trizyklische Antidepressiva reduzieren sowohl dauerhafte brennende als auch einschießende Schmerzen. Außerdem sind sie die einzige Stoffgruppe, die bei frühzeitigem Einsatz die Entstehung einer Post-Zoster-Neuralgie nachweislich verhindern kann.

Ähnlich gut schnitten Carbamazepin und Phenytoin bei diabetischer PNP ab (NNT 3,3 und 2,1). Bei Trigeminusneuralgie müssen statistisch gesehen 2,6 Patienten behandelt werden, um einem zu helfen. Lamotrigin erreichte bei dieser Indikation in einer Studie eine sehr günstige NNT von 2,1. Auch mit Gabapentin wurden neuropathische Schmerzen gut gelindert; der als Antiepileptikum eingeführte Arzneistoff ist für diese Indikation auch zugelassen.

Auch Opioide wie Oxycodon und Tramadol waren in Studien bei Polyneuropathien gut wirksam. Dextromethorphan half Patienten mit diabetischer PNP mit einer NNT von 1,9 sehr gut.

Topisch gegen den Schmerz

Bei den topisch applizierten Pharmaka schnitten Capsaicin und Lokalanästhetika positiv ab. Capsaicin erregt bei einmaliger Applikation heftig die Nozizeptoren und löst brennenden Spontanschmerz und Überempfindlichkeit der Haut aus. Eine chronische Applikation führt dagegen zum reversiblen Funktionsverlust der Reizleitungsbahnen. Zubereitungen mit 0,025 und 0,075 Prozent Capsaicin brachten Patienten mit Post-Zoster-Neuralgie und Schmerzen nach Brustentfernung (Postmastektomie-Syndrom) Linderung. Die höher dosierte Creme half auch bei diabetischer PNP.

Wichtig für die Beratung: Zu Beginn der Therapie kann heftiges Hautbrennen auftreten, bevor der Wirkstoff seine desensibilisierende Wirkung entfaltet.

Auch Acetylsalicylsäure hat ihren Platz als Topikum. Eine Chloroform- oder Ethersuspension konnte in zwei Studien bei Patienten mit akutem Zoster oder mit einer postzosterischen Neuralgie die Schmerzen deutlich lindern.

Know-how zusammenführen

Da unterschiedliche pathophysiologische Mechanismen identische klinische Symptome auslösen können, findet man das wirksame Medikament und die richtige Dosierung für den einzelnen Patienten durch Ausprobieren und sorgfältiges Titrieren. Diese "Trial-and-error"-Strategie erfordert viel Geduld von Arzt und Patient.

Um die Schmerztherapie zu verbessern, will der Deutsche Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz (DFNS; www.neuropathischerschmerz.de) die Zusammenarbeit aller Grundlagenwissenschaften und klinischer Disziplinen fördern. Ziel ist es, die Entwicklung von chronischen neuropathischen Schmerzen zu verhindern oder bereits chronifizierte Schmerzen durch differenzierte Behandlungsstrategien zu beheben oder zu bessern.

 

Literatur

  • Tölle, T. R., Baron, R., Neuropathische Schmerzen: Auf dem Weg vom Mechanismus zur Therapie. Fortschritte der Medizin 120, Nr. II/III (2002) 49 – 59.

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