Vom Mistelextrakt zum Hightech-Pharmakon |
26.08.2002 00:00 Uhr |
Rekombinantes Viscumin
von Hannelore Gießen, München
Über Jahrtausende setzte man in der Volksheilkunde Misteln bei verschiedenen Krankheiten ein. Besondere Bedeutung erhielt die Pflanze in den letzten 80 Jahren in der anthroposophischen Medizin. Dort beruht ihre Verwendung jedoch auf einem komplementären, mit der Weltanschauung korrelierenden Therapieverständnis. Jetzt sind Molekularbiologen und Arzneimittelentwickler einem wichtigen Inhaltsstoff mit ihren Methoden auf der Spur.
Von den verschiedenen Substanzen, die in den meisten Mistelextrakten gefunden wurden, identifizierten Forscher das Mistellektin I sowie seine Isoformen Mistellektin II und III als wichtigste therapeutische Prinzipien. In den letzten Jahren wurden diese nun molekularbiologisch charakterisiert. Inzwischen befindet sich ein gentechnisch hergestelltes Mistelprotein, das rViscumin, in der klinischen Prüfung.
Die Brain AG, ein mittelständisches Biotechnologie-Unternehmen in Zwingenberg, begann 1994 im Auftrag der Firma Madaus das Mistellektin aus dem Mistelgenom zu klonieren und die molekularen Mechanismen seiner Wirkungen aufzuklären. Seit 1999 führt eine Tochterfirma das Projekt fort. Eine molekularbiologische Charakterisierung des rViscumin zeigte, dass die Eigenschaften des isolierten Stoffes nicht denen der klassischen Lektine wie Concanavalin oder Weizenkeim-Agglutinin entsprachen. Lektine sind pflanzliche Proteine, deren aktives Prinzip in der spezifischen Bindung von Kohlenhydraten liegt. Das rViscumin zählt hingegen zur Klasse der Ribosomen-inaktivierenden Proteine (Typ II RIP). Zwar verfügt rViscumin ebenfalls über Carbohydrat-bindende Eigenschaften, weist jedoch keinerlei strukturelle Homologie zu klassischen Lektinen auf.
Mistelprotein als trojanisches Pferd
Das charakterisierte Protein setzt sich aus zwei Ketten zusammen, die über Disulfidbrücken verbunden sind: Dabei besitzt die A-Kette enzymatische, die B-Kette Carbohydrat-bindende Eigenschaften. Über die B-Kette bindet das Mistelprotein an einen Oberflächenrezeptor der Zielzelle, und das komplette Protein dringt per Endozytose in die Zelle ein. So schleust das Mistelprotein den toxischen Teil des Moleküls, die A-Kette, wie ein trojanisches Pferd in die Zelle und setzt ihn erst dort frei. Das Toxin greift an der RNA der Ribosomen an. Dabei wird die ribosomale RNA zwar nur an einer einzigen Stelle beschädigt, aber das führt zu einem kompletten Block der Translation und damit der Produktion von Proteinen. Durch die Inaktivierung der Ribosomen wird in der Zelle ein Selbstmordkommando in Gang gesetzt.
Das Mistelprotein wirkt also nicht, indem es die Translation von mRNA zu Proteinen inhibiert wie beispielsweise Antibiotika, sondern indem es Ribosomen irreversibel inaktiviert. In der Onkologie ist dieses Wirkprinzip ein völlig neuer Ansatz. Über ähnliche Toxin-Eigenschaften wie rViscumin verfügt auch Ricin, ein homologes Protein aus Ricinus communis, das ebenfalls über ribosomale Inaktivierung wirkt.
Die Suche nach dem Rezeptor
Nachdem man das Wirkprinzip charakterisiert hatte, stellte sich die Frage, an welchen Rezeptor das Protein bindet. Nach längerer Suche wurde er als alpha-2-6-sialysiertes Galactosyl-Epitop aus der Gruppe der Glycosphingolipide identifiziert, einer Substanzklasse, die bei Tumoren, aber auch bei Signal- und Immunmodulation eine wichtige Rolle spielt. Dieser Rezeptor ist auf verschiedenen Zellen sehr unterschiedlich verteilt. Auf Lymphozyten befindet er sich eher selten, auf Tumorzellen wird er überexprimiert. Der biologische Hintergrund der Überexpression des Rezeptors auf Tumorzellen ist allerdings noch nicht geklärt.
Sowohl die A-Kette als auch die B-Kette werden getrennt über rekombinante Technologie in Escherichia coli exprimiert, ein Prozess, bei dem die Produkte als unlösliche Proteine anfallen. Um die natürliche Proteinfaltung zu erreichen, wird das chromatographisch gereinigte und gelöste Protein tropfenweise einer speziellen Pufferlösung zugesetzt. Nach einer nochmaligen Reinigung werden die so hergestellten A- und B-Ketten von rViscumin über eine Disulfidbrücke verbunden. Um sicher zu gehen, dass der Wirkstoff in der Aktivität dem natürlichen Mistelprotein entspricht, wurde einmal die aus dem Naturstoff gewonnene A-Kette mit der rekombinanten B-Kette verknüpft und umgekehrt. Diese chimären Mistelproteine entsprachen in ihren Eigenschaften sowohl dem rekombinanten als auch dem natürlichen Mistelprotein, einem Substanzgemisch verschiedener so genannter Mistellektine, die sich sowohl in Struktur als auch im isoelektrischen Punkt unterscheiden.
1995 starteten die Forscher erste Experimente, die zeigen sollte, ob das rekombinante Mistelprotein tatsächlich das Tumorwachstum hemmt. Dabei bestätigte sich, dass das Eiweiß in Konzentrationen von 20 bis 30 Picogramm/ml effektiv entarteten Zellen bei einer humanen T-Zell-Leukämie abtötet.
Später folgten Prüfungen mit humanen Krebszellen in Zellkultur, zunächst in Deutschland und anschließend beim National Cancer Institute (NCI). Die antikanzerogene Wirkung von rViscumin wurde anschließend mit den Daten anderer Zytostatika wie Topotecan, Dacarbazin und Cisplatin verglichen. Die Ergebnisse bestätigten das theoretische Modell, dass es sich bei der Wirkungsweise von rViscumin um ein in der Onkologie neuartiges Prinzip handelt. Bisher war noch kein therapeutisches Agens entwickelt worden, das auf die Proteinsynthese an den Ribosomen der Zelle abzielt.
Nach erfolgreichen Tests an verschiedenen Tumorzellen in Zellkultur prüften die Wissenschaftler das Mistelprotein im Tiermodell. Dabei behandelten sie zunächst ein oberflächliches Harnblasenkarzinom bei Mäusen, später auch bei Ratten mit Dosierungen von 3, 30 und 300 ng rViscumin. Bei lokaler Applikation in die Harnblase waren Dosierungen von 30 bis 300 ng wirksam. Danach wurde das Wirkprinzip an verschiedenen Mäusen untersucht, in man zuvor Tumoren transplantierte. Bei systemischer Gabe bewährte sich die Substanz in verschiedenen Modellen.
Nach den aussichtsreichen Untersuchungen im Tiermodell begann die klinische Prüfung der Phase I. Dabei wurde die Verträglichkeit beim oberflächlichen Blasenkarzinom nach lokaler Anwendung, aber auch bei den verschiedensten Tumorerkrankungen nach parenteraler Applikation überprüft. Die Phase II der klinischen Prüfung und damit die eigentliche Wirksamkeitsprüfung soll im kommenden Jahr beginnen.
Das pharmazeutische Institut der Universität Kiel hat den Wirkstoff galenisch weiter entwickelt. Zunächst stellten die Forscher Formulierungen aus wässriger Salzlösung her. Die Stabilität des Proteins sowie dessen Bindungskapazität wurden in Lösungen ohne Stabilisator untersucht, um so Informationen über Lagerbedingungen und Lagerzeit zu erhalten. Dabei zeigte sich, dass die beste Stabilität bei pH-Werten oberhalb von 7,0 und bei Temperaturen von 2 bis 8 Grad Celsius liegt. Probleme bereitete jedoch die Eigenschaft von rViscumin, sich an die Oberfläche des Primärpackmittels anzulagern. Durch Zusatz von Polysorbat und Polyvidon konnte dieser Effekt jedoch verhindert werden. In toxikologische Prüfung verlief ebenfalls positiv.
Fusionstoxine als Weiterentwicklung
Während rViscumin die klinische Prüfung durchläuft, sind schon Mistelproteine der zweiten Generation in der Entwicklung. Dabei werden die toxischen Eigenschaften der A-Kette genutzt, indem auf die Zielzelle gerichtete Fragmente von Zytokinen, Hormonen oder Antikörpern anhängt. Verwendet wird beispielsweise die Antigen-tragende Domäne des Interleukin-II-Rezeptors. Durch das Antikörperfragment werden bestimmte Krebszellen spezifisch erkannt und das Selbstmordprogramm der Zelle angestoßen. Prüfungen mit solchen Immunotoxinen befinden sich derzeit im Stadium von In-vitro-Prüfungen.
Trotz vieler Verbesserungen bei der Behandlung von Krebserkrankungen ist die Situation in der Onkologie derzeit unbefriedigend. Zwischen den heutigen Kenntnissen der molekularen Medizin über Krebsentstehung und auch Krebsbekämpfung sowie dem Arsenal zytotoxischer Wirkstoffe, die größtenteils aus den 50er-Jahren stammen, klafft eine riesige Lücke. Bisher beschränkt sich der Wirkmechanismus der Zytostatika auf nur zehn Angriffsstellen im Tumor. Die Mistelproteine sind ein viel versprechender neuer Ansatz.
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