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Ein guter Jahrgang für den Fingerhut

03.04.2000  00:00 Uhr

-PharmazieGovi-Verlag

Ein guter Jahrgang
für den Fingerhut

von Dierk Jensen, Calbe

Im Herzen Europas, am Rande der Magdeburger Börde, kultiviert die Agrargenossenschaft Calbe auf ihren Äckern als einziger Anbauer Deutschlands die Digitalis lanata. Die Spezialanbauer aus Sachsen-Anhalt beliefern zwei Pharmakonzerne mit der Rohdroge.

Ohne Atemschutz geht in der Abpackhalle nichts. Denn schon nach kurzer Zeit legt sich ein bitterer Geschmack auf die Zunge, der Hals wird merkwürdig trocken und kratzt unangenehm. Zudem liegt feiner dichter Staub in der Luft, wenn die Mitarbeiterinnen der Agrargenossenschaft Calbe die getrockneten Blätter des wolligen Fingerhuts vom Ladewagen auf das Laufband befördern. Bevor nun die Ware von einer Presse in rechteckige Ballen gedrückt wird, sortieren flinke Hände noch schnell die letzten Fremdpflanzen und Blütenstände heraus. Versandfertig zugeschnürt geht die Droge dann direkt zu den Abnehmern Roche in Mannheim und Boehringer in Ingelheim.

In deren Laboratorien durchschreitet das Pflanzenmaterial ein kompliziertes Prozedere: Fermentation, Extraktion, Verseifung, Lösung und Methylierung. "Aus einem anfangs tief dunkelgrünen Substrat gewinnen wir am Ende ein reinweißes Kristallisat", verkürzt Dr. Herbert Simon, Chef im Produktionsbetrieb Therapeutische Wirkstoffe bei Roche, den komplizierten chemischen Prozess. Aus den über 60 verschiedenen Glykosiden, die sich in den Blättern der Digitalis befinden, soll nur Lanatosid C extrahiert werden, um am Ende den Wirkstoff Digoxin zu gewinnen.

Im Vergleich zum großen Aufwand in Mannheim wirkt die Arzneipflanze auf den fruchtbaren Feldern der Agrargenossenschaft Calbe geradezu pflegeleicht. Ohne die prachtvollen Blütenstände, die die Pflanze erst im zweiten Lebensjahr entwickelt, wirkt der gelbe Fingerhut fast unscheinbar. Doch auf dem Spezialacker zählt nicht botanische Schönheit, sondern allein der Gehalt an Lanatosid C. Und das steckt in den Blättern der Digitalis lanata, die immer im ersten Jahr geerntet werden. Deshalb sieht man die Kulturpflanze auf dem Acker nur mit ihrem rosettenartigen, flach über dem Boden wachsenden Blätterwerk.

Kriechen die dunkelgrünen Blätter aber zu sehr auf dem Boden dahin, haben die Landwirte der Agrargenossenschaft ein echtes Problem: Die Blätter welken und werden unbrauchbar. Hinzu kommt, dass dann das Schneidegerät der speziellen Erntemaschine die Blätter nicht mehr voll erwischt und so wertvolles Pflanzenmaterial verloren geht.

Anbauprobleme, die den Experten aus Calbe in diesem Jahr aber nicht auf den Magen schlugen: So konnte der Vollernter in den Erntemonaten September und Oktober problemlos durch den sächsisch-anhaltinischen Fingerhut-Bestand fegen; schnitt das fingerförmige Blatt schonend ab, legte es auf Bänder, die das sensible Blättchen auf parallel fahrende Erntewagen transportierte. Grosse Staubwolken zogen Zugmaschinen und vollgeladenen Erntewagen hinter sich her, wenn sie über den Acker brummten.

Auf insgesamt 46 Hektar fallen wahre Blätterberge an: Rund 500 Tonnen frisches Pflanzmaterial kommen vom Feldschnitt direkt in ein großes Trockenlager in Üllnitz, einem Nachbardorf bei Calbe. Bagger stehen dort bereit, um die Massen aufzugreifen und zu schichten.

Mit schwerem Gerät wird das Erntegut in der Trocknung bei Temperaturen von maximal 45 °C mehrmals umgeschichtet. Solange bis der Feuchtigkeitsgehalt auf 8 bis 10 Prozent sinkt. Das Blatt ist dann so fragil, dass es schon bei leichtem Händedruck zwischen den Fingern zerbröselt.

Digitalis-Anbau hat in Calbe eine lange Tradition. Lange vor der Wende wurde die Arzneipflanze in DDR im großen Stil kultiviert. Der Standort bot sich an: Sehr gute Böden und relativ hohe Jahresmitteltemperaturen bei gleichzeitig geringen Niederschlagsmengen waren ideale Voraussetzung für die anspruchsvolle Digitalis, die zu DDR-Zeiten an die Dresdener Arzneimittelfabrik geliefert wurde und seit 1990 im Vertragsanbau an Boehringer und Roche geht.

Trotz neuer Abnehmer hat sich am Anbau nur wenig geändert. Während die Dresdener die Sorte Radilan stellten, dessen Sortenpatent sich die Agrargenossenschaft inzwischen sicherte, liefert heute der Pharmakonzern aus Mannheim die Saat.

Züchter haben es fertiggebracht, den Gehalt vom Lanatocid C von 0,1 Prozent sukzessive nahezu um einem ganzen Prozentpunkt anzuheben.

Sowohl mit den Vertragslandwirten in Calbe als auch mit dem holländischen Anbaupartner "Vereinigte Niederländische Agrargenossenschaft" sprechen Roche und Boehringer in jedem Winter genau ab, wie viel Hektar im nächsten Jahr angebaut werden sollen. Da sich die Pharmazeuten von Roche aber nicht ganz und gar auf die Natur verlassen, liegt zur Sicherheit immer eine volle Jahresernte in den Kühlraumen bereit.

Diplom Agraringenieur Hans Joachim Gerber, Geschäftsführer des 3 500 Hektar großen Ackerbaubetriebes in Calbe, weiß genau um die Potentiale, ist man doch bundesweit der einzige Digitalis-Produzent. Neben dem Fingerhut gedeihen auch Johanniskraut, Thymian, Bohnenkraut und Majoran auf den Feldern der Agrargenossenschaft.

Seit 1972 wächst die Pflanze auf dem Gelände im trockenen Schatten des Ostharz. "Für uns ist die Digitalis nichts besonderes mehr", sagt Gerber Superfein muss das Saatbeet sein und nur hauchdünn darf Erde die 6 kg Samen pro Hektar bedecken. Nach drei Wochen geht die Digitalis auf, lugt bei einer Aussaat Ende März schon spätestens Ende April aus dem Boden. Das größte Problem sind dann Konkurrenzgräser und -kräuter. In Calbe halten Saisonkräfte das Unkraut durch Handarbeit in Schach. Allein für das Jäten und Pflegen eines Hektars werden so rund 1500 DM ausgegeben.

Nur in Ausnahmefällen benutzen die Calber Herbizide. Roche und die Agrargenossenschaft Calbe arbeiten auf diesem Sektor eng zusammen und finanzieren gemeinsam die sogenannte "Lückenindikation", die es nach einer Reihe von teuren Unbedenklichkeitsprüfungen ermöglicht, gängige Spritzmittel aus dem gewöhnlichen Pflanzenaufbau auch in der Sonderkultur einzusetzen. Vorausgesetzt es besteht dazu überhaupt Bedarf, wird die Digitalis doch von keiner Pilz- oder Viruskrankheit ernsthaft geplagt und es rücken ihr auch keine tierischen Schädlinge heftig zu Leibe.

Viel mehr Wert legen Anbauer und Industrie auf eine gleichmäßige Pflanzenqualität. Und die werden Gerber & Co vom "guten Jahrgang 1999" auf jeden Fall liefern können. Top

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