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Entgleistes Wachstum stoppen

23.02.2004  00:00 Uhr
Pegvisomant

Entgleistes Wachstum stoppen

von Conny Becker, Wolfsburg

Wenn Erwachsene weiterhin wachsen, liegt dies meist an einem Adenom der Hypophyse, das ein unkontrolliertes Ausschütten des Wachstumshormons bewirkt. Als neuer Arzneistoff in der Behandlung der so genannten Akromegalie kam Ende letzten Jahres Pegvisomant auf den europäischen Markt.

Mit dem Wort Wachstumshormon assoziieren die meisten Menschen Längenwachstum und Riesenwuchs. Gerät der Haushalt des somatotropen Hormons, auch human Growth Hormon (hGH) genannt, jedoch nach Abschluss des Wachstumsalters aus den Fugen, „besitzen die Knochen keine Knorpelzonen mehr, an die Zentimeter angebaut werden können“, sagte Professor Dr. Christian Strasburger, Leiter des Bereichs Klinische Endokrinologie an der Berliner Charité, auf einer von Pfizer unterstützten Pressekonferenz in Wolfsburg. Als Folge davon wachsen selektiv die als Akren bezeichneten Körperenden, wozu neben Nase, Ohren, Kinn, Händen und Füßen auch Jochbein, Wirbel sowie knorpelige Thoraxanteile zählen. Betroffene kann der Experte an ihren groben Gesichtszügen, den Höckern über den Augenbraunen und einer prominenten Nase, sowie einem vergrößerten Kiefer mit Zahnlücken erkennen. Doch obwohl den Patienten die Schuhe zu klein werden und sie sich zum Teil den Ehering vom Finger schneiden lassen müssen, wird die Erkrankung im Durchschnitt erst acht Jahre nach Auftreten der ersten retrospektiv erfragbaren Symptome diagnostiziert. Dies geschieht häufig durch Zufall oder auf Verdacht eines Zahnarztes hin.

 

Steckbrief Der Wachstumshormon-Rezeptorantagonist Pegvisomant ist seit August letzten Jahres zur Behandlung der Akromegalie bei Patienten zugelassen, bei denen Operation und/oder Strahlentherapie nicht den gewünschten Erfolg erzielten und bei denen eine adäquate medikamentöse Behandlung mit Somatostatin-Analoga nicht vertragen wurde oder sie die IGF-I-Konzentration nicht normalisierte. Es handelt sich um ein pegyliertes Wachstumshormonanalogon, das sich aus 199 Aminosäuren zusammensetzt. Somavert® (Pfizer) ist als Durchstechflasche mit 10, 15 oder 20 mg Pulver und Lösungsmittel zur Herstellung einer Injektionslösung erhältlich. Die Patienten können sich wie Diabetiker den Wirkstoff täglich selbst spritzen.

 

Denn der Auslöser dieser schleichenden Krankheit liegt in der Mitte der Schädelbasis versteckt – in der kirschkerngroßen Hypophyse. Zu 99 Prozent rufe eine gutartige Geschwulst des Vorderlappens der Hirnanhangdrüse hier die vermehrte hGH-Ausschüttung hervor. Das Adenom ist nur wenige Zentimeter groß und bereitet lange Zeit keine starken Schmerzen, die eine frühe Computertomographie veranlassen würden.

Dennoch müsse Akromegalie „rechtzeitig diagnostiziert und behandelt werden, damit die Patienten nicht die Folgekrankheiten erleiden“, forderte der Mediziner. So sei ihre Lebenserwartung durchschnittlich um zehn Jahre reduziert. Als häufigste Todesursache nannte Strasburger Herz-Kreislauferkrankungen, so nehme etwa die Größe der linken Herzkammer zu, das Herz werde insuffizient. Da im Verlauf der Krankheit Weichteile anschwellen, komme es bei jedem Zweiten zu massivem Schnarchen (geschwollene Zunge) und dem Schlafapnoe-Syndrom, das einen unabhängigen Risikofaktor für Herz-Kreislauferkrankungen darstellt. Auf den nächtlichen Stress reagiert der Körper häufig mit hohem Blutdruck. So hat mehr als die Hälfte der Patienten eine Hypertonie. Ebenso viele Betroffene weisen eine pathologische Glucosetoleranz auf, bis zu einem Drittel leidet an Diabetes mellitus, da das Wachstumshormon die Glucoseaufnahme in die Zellen verringert und eine Abnahme der Glucoseoxidation bewirkt. Schließlich klagen die Betroffenen auch vermehrt über Arthritis und haben eine erhöhte Neoplasieneigung.

 

Wirkmechanismus des Zufallsfunds Wie häufig bei der Suche nach neuen Arzneimitteln, halten diese nicht, was sie versprechen. So versuchten Wissenschaftler um Professor Dr. John Kopchick mit dem Austausch einer Aminosäure (Arginin statt Glycin an Position 120) im Zentrum des natürlichen Wachstumshormons eine Substanz zu kreieren, die ein „Superwachstum“ erzeugt und kleinen Kindern zum Wachsen verhelfen sollte. Doch die Versuchsmäuse wurden nicht zu Giganten, sondern stellten ihr Wachstum vorzeitig ein.

So bindet das Analogon zwar wie gewünscht stärker an den ersten Rezeptor für hGH, jedoch spielen für den biologischen Effekt insgesamt zwei Rezeptoren eine Rolle. Erst, wenn hGH an beide andockt und ein Rezeptordimer entsteht, startet die Signalübertragung, so dass zum Beispiel in der Leber IGF-I ausgeschüttet wird. Da das Hormonderivat eine sehr hohe Bindungsaffinität zum ersten Rezeptor besitzt (dafür wurden weitere acht Aminosäuren eingefügt), an den zweiten jedoch auf Grund von Arginin nicht bindet, blockiert es die hGH-Wirkung.

Als problematisch für einen medikamentösen Einsatz galt die kurze Halbwertszeit von etwa 15 Minuten. Die Forscher bedienten sich einem bei Interferonen erprobten Kunstgriff und bestückten das Protein mit Polyethylenglykol, so dass sich die Halbwertszeit bei Pegvisomant auf 74 bis 172 Stunden mehr als drei Tage drei bis sieben Tage erhöht werden konnte.

 

Laut Referent leiden derzeit mindestens 5000 Deutsche unter der entstellenden und tödlichen seltenen Krankheit. Meist tritt sie im Alter zwischen 30 und 60 Jahren auf, wobei Frauen geringfügig öfter betroffen sind als Männer. Jedes Jahr erkranken vier von einer Million Menschen neu an Akromegalie, an die auch Mediziner bei vorliegenden Symptomen häufig nicht denken.

Bisherige Therapie unbefriedigend

Mittel der Wahl in der Behandlung der Akromegalie ist die Operation, wobei laut Strasburger der Neurochirurg in der Hypophysenchirurgie sehr geübt sein sollte. Dennoch könne diese nur in 80 bis 95 Prozent bei Mikroadenomen (< 1 cm Durchmesser) und maximal 50 Prozent bei Makroadenomen (> 1 cm Durchmesser) heilen, wobei nur ein geringerer Teil der Patienten ein Mikroadenom hat. „Das Problem wird nur gelindert, nicht beseitigt. Das Risiko für Folgeerkrankungen bleibt bestehen.“ Daraus ergebe sich häufig eine lebenslange Therapie.

Die Bestrahlung des Tumors sei in Deutschland nicht sehr populär, da sie auch die steuernden Funktionen der Hypophyse auf Schilddrüse, Nieren oder Geschlechtsorgane beeinträchtige und gehäuft zu Kopfschmerzen und Schlaganfällen führe, so der Referent.

Eine medikamentöse Therapie zielt darauf ab, den Spiegel des Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktors I (IGF-I) zu senken. Denn das Wachstumshormon wirke größtenteils über das vor allem in der Leber gebildete IGF-I, dessen Effekte gebremst werden sollen. Dabei bringt eine Therapie mit peroral applizierbaren Dopaminagonisten jedoch nur in 20 bis 30 Prozent der Fälle eine Besserung. Als Klassiker galten bisher Analoga des Somatostatins, dem natürlichen Gegenspieler von hGH, die auch als Depotpräparate appliziert werden können. Sie konnten den IGF-I-Spiegel jedoch nur bei 50 bis 75 Prozent der Patienten normalisieren. „Ein Drittel der Patienten hat mit bisher zur Verfügung stehenden Medikamenten keine Chance auf Normalisierung und behält das Risiko für Folgeerkrankungen“, resümierte Strasburger.

Rezeptorantagonist secondline

Das gentechnisch hergestellte Pegvisomant (Somavert®) konkurriert mit dem Wachstumshormon um dessen Rezeptoren und blockiert diese. Somit wird weniger IGF-I gebildet, die biologischen Wirkungen des Wachstumshormons verebben. Unter dem hGH-Rezeptorantagonisten normalisierte sich der IGF-I-Spiegel in der höheren Dosierung bei rund 90 Prozent der Patienten, so das Ergebnis der Zulassungsstudie.

Diese randomisierte placebokontrollierte Doppelblindstudie umfasste 112 Patienten, die nach einer Startdosis (80 mg oder Placebo) täglich entweder 10, 15 oder 20 mg des Verums oder Placebo über zwölf Wochen als subcutane Injektion erhielten. Dabei wurden vor der Therapie sowie nach zwei, vier, acht und zwölf Wochen die biochemische Marker gemessen und die klinische Symptomatik bestimmt. Unter 10 mg Pegvisomant fiel der IGF-I-Spiegel um 26,7 Prozent, 54 Prozent der Patienten erreichten einen altersentsprechenden IGF-I-Spiegel. In der mittleren Dosierung sank der Spiegel auf die Hälfte ab, bei 81 Prozent normalisierte sich die Plasmakonzentration. Besonders deutlich, um 62,5 Prozent, fiel der IGF-I-Wert unter 20 mg Pegvisomant. Unter der höchsten Dosierung erreichten daher 89 Prozent der Patienten einen normalen IGF-I-Spiegel.

Parallel zu den Laborwerten besserten sich laut Strasburger dosisabhängig auch die klinischen Symptome der Akromegalie. So nahmen Ringgröße und Weichteilschwellung ab, Kopf- und Gelenkschmerzen, Schweißneigung und Müdigkeit gingen zurück. Dabei traten unerwünschte Ereignisse in der Verumgruppe nicht häufiger auf als unter Placebo, der einen IGF-I-Abfall von 4 Prozent bewirkte, wobei sich die Symptome jedoch weiter verschlechterten.

In einer 18-monatigen Langzeitstudie mit 160 Patienten wurde die Langzeiteffektivität und -sicherheit von Pegvisomant untersucht. Bei 87 der 90 Patienten, die zwölf Monate oder länger behandelt wurden, normalisierte sich der IGF-I-Spiegel, was 97 Prozent entspricht. Während der Therapie verdoppelte sich die Konzentration des endogenen Wachstumshormons, die Werte stiegen jedoch nach Normalisierung des IGF-I-Spiegels nicht weiter an und gingen nach Absetzen wieder auf den Ausgangswert zurück. Nüchtern-Insulin und -Glucosespiegel fielen unter der Therapie signifikant ab, was darauf schließen lässt, dass Pegvisomant die Insulinsensitivität verbessert. Hierin sieht Strasburger einen deutlichen Vorteil gegenüber den Somatostatin-Analoga. Diese hemmen zusätzlich zur Akromegalie-bedingten Insulinresistenz die Insulinausschüttung, was er als „ungünstige Kombination“ bezeichnete.

Als häufigste Nebenwirkung gaben die Patienten Kopfschmerzen, grippeähnliche Symptome sowie Reaktionen an der Einstichstelle an. So bemerkten Patienten eine Zunahme des Unterhautfettgewebes, welches Rezeptoren für hGH aufweist, da das Wachstumshormon hier physiologisch den Fettabbau anregt. Um diese Nebenwirkung zu minimieren, sollten die Betroffenen laut Strasburger die Einstichstelle häufiger wechseln. Rund 17 Prozent der Patienten bildeten unter der Langzeittherapie Antikörper gegen das Protein aus, was jedoch die Wirkung nicht minderte. Bei zwei Patienten wurde die Behandlung abgebrochen, da die Transaminasenwerte auf mehr als das Zehnfache anstiegen. Abschließend bewertete Strasburger die Therapie jedoch als gut verträglich. Nonresponder erklärt sich der Mediziner mit hohen Basisspiegeln von hGH und einer erhöhten Konzentration von löslichen hGH-Bindungsproteinen, die den Wirkstoff abfangen. Er geht davon aus, dass prinzipiell bei allen Patienten der IGF-I-Spiegel normalisiert werden kann.

 

 

Netzwerk für Betroffene Der Sitz des Netzwerks Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen, einem gemeinnützigen Verein von Betroffenen, Angehörigen und Ärzten, ist in Erlangen. Hier finden Patienten mit Akromegalie, aber auch mit Morbus Cushing, Prolaktinomen, hormoninaktiven Hypophysenadenomen, Diabetes insipidus, Morbus Addison oder Hypophyseninsuffizienz Hilfe und Informationen. Das Netzwerk fördert zudem Forschung sowie Weiterbildungsmaßnahmen auf diesem Gebiet.

Netzwerk Hypophsen- und Nebennierenerkrankungen e. V.
Waldstraße 34
91054 Erlangen
Telefon (0 91 31) 81 50 46
Fax (0 91 31) 81 50 47
glandula@rzmail.uni-erlangen.de

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