Arzneimittel mit Zusatznutzen |
29.11.2004 00:00 Uhr |
Bei der Entwicklung optimaler Arzneitherapien hat ein Umdenken stattgefunden. Stand in den letzten Jahrzehnten die Suche nach innovativen, besser wirksamen Arzneistoffen im Vordergrund, so besinnen sich viele Firmen heute auf die Optimierung der Arzneiform. Ziel ist es, Wirksamkeit und Verträglichkeit des Medikaments zu erhöhen und die Anwendung zu erleichtern.
Das Zauberwort heißt Life-cycle-Management. Für forschende Unternehmen und Generikafirmen bedeutet dies, dass mit der Markteinführung oder dem Patentablauf eines Arzneimittels die Forschungsarbeit längst nicht zu Ende ist. Es gilt, neue Indikationen zu erschließen und/oder die Arzneiform zu optimieren. Modifikationen an Rohstoff und Formulierung können die Pharmakokinetik verändern und damit letztlich die Wirksamkeit des Medikaments erhöhen.
Professor Dr. Henning Blume, Gründer und Geschäftsführer des Auftragsforschungsunternehmens SocraTec R & D, hält einen Paradigmenwechsel bei der Entwicklung moderner Arzneiformen für erforderlich. Statt die klinische Rationale einer neuen, patentierten Galenik anzupassen, müssten die Forscher indikationsgerichtet vorgehen und sich an den medizinischen Vorgaben orientieren. „Die Galenik als Dienstleister muss den Anforderungen der Klinik gerecht werden“, sagte er bei einem Symposium anlässlich der Eröffnung der SocraTec-Probandenstation Mitte November in Erfurt. Ziel sei immer, einen therapeutischen Gewinn für den Patienten und sein Umfeld zu realisieren. Mit einer offensiven Diskussion über Life-cycle-Management könne sich Deutschland international an die Spitze der Entwicklung stellen, prognostizierte der Apotheker.
Fortschritt durch gute Galenik
Auch Dr. Dörte Wolf, Leiterin der Probandenstation, plädierte dafür, zunächst ein „echtes therapeutisches Problem“ zu analysieren und die für die Problemlösung erforderlichen biopharmazeutischen Eigenschaften der Arzneiform zu bestimmen. Erst dann könne man zielgerichtet eine Arzneiform realisieren. Life-cycle-Management sei „eine Aufgabe für jedes produzierende Gewerbe“. Die Fachärztin für Klinische Pharmakologie nannte drei Beispiele für die Therapieoptimierung bei bekannten Wirkstoffen.
Die Wirksamkeit der Statine hänge von deren Konzentration am Wirkort Leberzelle ab, während Nebenwirkungen mit der Plasmakonzentration korrelieren. Sowohl die Aufnahme in die Leberzelle als auch der First-pass-Metabolismus sind sättigbare Prozesse. Daher könne eine Arzneiform mit verzögerter Freisetzung, die den Arzneistoff langsam und gleichmäßig anfluten lässt, die hepatische Aufnahme erhöhen und die systemische Verfügbarkeit reduzieren.
Bislang wenig beachtet sind Erkenntnisse der Chronopharmakologie. Bei etwa 150 Arzneistoffen sei ein verändertes Ansprechen im Tagesrhythmus bekannt und auch Krankheiten variieren im Tagesverlauf, sagte Wolf. Zum Beispiel leiden Patienten mit rheumatoider Arthritis oder Morbus Bechterew (früh-)morgens am stärksten unter Schmerzen und Bewegungseinschränkungen. Eine geeignete Arzneiform soll – bei möglichst einmal täglicher Einnahme zum Essen (Once-a-day-Form) – ausreichende Wirkspiegel zum Bedarfszeitpunkt liefern. Abends gegeben, erzielt eine „normale“ Tramadol-Retardtablette am nächsten Morgen jedoch nur minimale Plasmaspiegel. Erst eine neu entwickelte Retardkapsel mit stärker retardierten Pellets führte bei abendlicher Einnahme zu morgendlichen Spitzenspiegeln und ermöglicht damit eine „chrono-adjustierte“ Therapie.
Patienten mit schweren Dauerschmerzen brauchen neben einer analgetischen Basisversorgung, zum Beispiel mit transdermalen therapeutischen Systemen („Schmerzpflaster“ mit Buprenorphin oder Fentanyl), auch schnell anflutende Analgetika zur Kupierung von Durchbruchschmerzen. Dies wurde mit einer Fentanyl-Sublingualtablette in Form eines Lutschers realisiert. Dennoch sieht Wolf hier weiteren Optimierungsbedarf.
Keine überzogenen Erwartungen
Andererseits können Galenik und Arzneiform nicht alle therapeutischen Probleme lösen, denn sie steuern nur die Resorption. Verteilung, Metabolismus und Ausscheidung eines Wirkstoffs hängen von dessen Eigenschaften und dem individuellen Patienten ab, mahnte Dr. Gertrud Ahr, Leiterin des Departments für Klinische Pharmakokinetik bei Bayer HealthCare, Wuppertal.
Studien zum Resorptionsort liefern wichtige Erkenntnisse zur Aufnahme eines Stoffs aus den einzelnen Regionen des Magendarmtrakts. Die Ergebnisse sollten dazu beitragen, die physiologischen Grenzen der Retardierbarkeit auszuloten und eine Risikobewertung anzustellen, forderte Ahr. Ein Unternehmen müsse bereits in der Präklinik und der Phase I der Arzneimittelentwicklung entscheiden, ob eine Controlled-release-(CR)-Form nötig und realisierbar ist.
Nur ein Drittel aller Wirkstoffe benötige überhaupt eine spezielle Arzneiform, und immerhin ein Drittel könne mit herkömmlichen Retardierungsprinzipien gar nicht verabreicht werden. Aus Sicht der Pharmaforscherin erhöht eine CR-Formulierung das Risiko in der Entwicklung, verzögert die Entwicklungszeit um etwa 18 Monate und „macht alles teurer“.
Häufig liegen der galenischen Entwicklung falsche Vorstellungen über die Situation im Gastrointestinaltrakt zu Grunde, monierte Professor Dr. Werner Weitschies von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Anhand der Ergebnisse aus eigenen Untersuchungen mit magnetisch markierten Arzneistoffen (Magnetic Marker Monitoring) räumte er mit etlichen Fehlmeinungen auf.
Dünndarm ist kein Wasserschlauch
So enthält der Magen keinen homogenen Speisebrei, denn seine Aufgabe sei die Separierung der zugeführten Nahrungsbestandteile, erklärte der Technologe. Kleine Partikel wie Pellets wandern auch nicht automatisch kontinuierlich durch den Magenpförtner, sondern verlassen den Magen mit dem Speisebrei. Die Aufnahme von Speisen und kalorienhaltigen Getränken – auch Alkohol – verzögert die Magenentleerung erheblich, denn der Magen entleere seinen Inhalt mit den darin enthaltenen Tabletten oder bereits freigesetztem Arzneistoff nur im Nüchternzustand, erklärte Weitschies. Dies könne zu einem plötzlichen, überschießenden Anstieg der Plasmaspiegel (dose dumping) führen, was fälschlicherweise meist der Arzneiform angelastet wird. Auch wenn das System den Wirkstoff kontrolliert freisetzt, steuert der Magen, wann dieser in den Dünndarm und damit zum Hauptresorptionsort weiterwandert.
Nach einer sehr raschen Duodenalpassage erreicht der Nahrungsbrei den Dünndarm, der ebenfalls nicht gleichförmig arbeitet. Salopp gesagt: „Wenn der Magen schläft, ruht auch der Dünndarm.“ Zudem ist er, entgegen der landläufigen Meinung, „kein mit Wasser oder Darmsaft gefüllter Schlauch“. Nach Untersuchungen mit Magnetresonanztomographie enthält der Dünndarm nüchtern im Durchschnitt nur etwa 80 ml Flüssigkeit, eine Stunde nach einer Mahlzeit noch weniger. Die Flüssigkeit ist in vier bis fünf „Nestern“ verteilt, die im Volumen sehr stark differieren und nach einer Mahlzeit teilweise nur 2 bis 3 ml enthalten. Im Dickdarm ist das Milieu noch „trockener“: Das typische Gesamtvolumen beträgt 10 ml, wieder in vier bis sechs Nestern verteilt.
Generika mit Zusatzeffekt
Hohe Wirkstoffdosen, schlecht lösliche oder bittere Arzneistoffe, stark schwankende Blutspiegel, schlecht schluckbare Riesen-Arzneiformen: Es gibt zahlreiche Ansätze, feste Arzneiformen mit Zusatznutzen (Added-value Generics) zu entwickeln, zeigte Dr. Peter Gruber, Leiter Entwicklung und Analytik bei Losan Pharma, Nürnberg, an Beispielen aus der eigenen Forschung. Durch Einschluss in Cyclodextrine können sehr bittere Stoffe wie Cetirizin als Lutschtablette formuliert werden. Die Testformulierung war wie gewünscht bioäquivalent zum Referenzprodukt.
Eine gute Möglichkeit, große Wirkstoffmengen zu verarbeiten, die Löslichkeit durch gezielte Salzbildung zu verbessern und eine schnelle Anflutung im Blut zu erreichen, bieten Brausetabletten. Außerdem könne man auch einen werbewirksamen Zusatznutzen anbieten, wenn Cetirizin mit Calcium, Loperamid mit Mineralien oder Lactulose mit Kalium kombiniert wird. Brausetabletten gibt es aber auch im Kleinstformat. Mit Zolpidem-Mikrobrausetabletten, die der Patient in 30 bis 50 ml Wasser auflöst, werden bereits nach zehn Minuten deutlich höhere Plasmaspiegel erreicht als mit einer Filmtablette; nach etwa 35 Minuten haben sich die Spiegel jedoch angeglichen.
Hilfreich für ältere Menschen und Patienten mit Schluckbeschwerden sind „Easy-take“-Tabletten. Diese sind in einer ersten Schicht mit einem speziellen Polymer überzogen, die zweite Schicht enthält Speichel induzierende, aromatisierte Hilfsstoffe. Bei der Einnahme entsteht durch Ablösen der äußeren Schicht ein stärkerer Speichelfluss, wodurch die Polymerschicht zu einem schlüpfrigen Gel aufquillt. Die gebildete Menge von bis zu 5 ml Speichel reiche zum Schlucken der Tablette ohne Wasser aus, sagte Gruber. Easy-take-Tabletten mit ASS oder Paracetamol hätten ein „wesentlich angenehmeres Mundgefühl“. Der Wirkstoff Loperamid lasse sich damit auf Reisen ohne Wasser einnehmen.
Ebenfalls leichter zu schlucken sind speichelresistente oder freigabegesteuerte Partikel, die zu einer Tablette verpresst werden, die in wenig Wasser auf dem Löffel oder im Mund rasch zerfällt (Liquitab®-Technologie). Diese leicht dosierbaren, „orodispersiblen“ Formen könnten vor allem Antibiotika-Trockensäfte oder Sirupe ersetzen. Vorteilhaft sei, dass auf Konservierungsmittel und etliche Hilfsstoffe, die für Säfte notwenig sind, verzichtet werden kann.
Anwenderfreundlich ist auch eine Technologie mit speichelresistenten,
aromatisierten Pellets, die im Mund innerhalb von 3 Sekunden einen Brei
bilden (Vismon®). Bringt man zum Beispiel 2 g Pellets auf die
Zungenmitte, kleben diese spontan zu einem Brei zusammen: „wie Griesbrei“.
Auf der Partikeloberfläche wandelt sich das Polymer in ein schlüpfriges
Gel um, so dass der Patient den Brei ohne Wasser schlucken kann. Mit
einzeldosierten Applikationshilfen wie Ready-to-use-Löffel oder schmalen
Tütchen (Stickpack) kann man die Pellets direkt auf die Zunge bringen.
Dieses System eignet sich für Patienten, die regelmäßig hohe
Wirkstoffdosen einnehmen müssen, resümierte Gruber.
© 2004 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de