Harte Daten und statistische Power |
29.11.1999 00:00 Uhr |
Bei der Pharmakotherapie fischen Ärzte nach wie vor häufig im Trüben. Harte Daten aus validen Untersuchungen mit modernem Studiendesign liegen nur für die wenigsten Indikationen vor. Warum nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte, Apotheker und die Leistungsträger von einer qualitativ hochwertigen Arzneimitteltherapie profitieren, erörterten Professor Dr. Martin Sigmund und Dr. Wolfgang Kämmerer von den Dr.-Horst-Schmidt-Kliniken (HSK), Wiesbaden, während der Medizinfachmesse Medica. Das Deutsche Ärzteblatt und die Pharmazeutische Zeitung hatten Mediziner und Pharmazeuten am 20. November 1999 zu einer interdisziplinären Fortbildung nach Düsseldorf eingeladen.
Berührungsängste oder Misstrauen sind für den Kardiologen Sigmund und den Klinikapotheker Kämmerer Fremdwörter. Seit geraumer Zeit arbeiten die beiden in dem 1000-Betten-Klinikum eng zusammen. "Wir sind in fast allen Bereichen der Arzneimitteltherapie weit davon weg, zu wissen, wo wir stehen", kritisierte Sigmund in seinem Statement. Leider träfen Mediziner häufig nicht anhand harter Daten ihre Entscheidung, welches Medikament sie bei welcher Indikation einsetzen. Bestes Beispiel seien die Digitalis-Glykoside. Noch immer erhielten 80 Prozent aller herzinsuffizienten Patienten Digitoxine statt ß-Blocker, und das trotz überzeugender Studiendaten.
In der MERIT-Studie sank die Mortalität Herzinsuffizienter, die ß-Blocker erhielten, um 40 Prozent. Einen solchen Effekt konnten Wissenschaftler für Digitalis nie nachweisen, sagte Sigmund. Fast 200 Jahren hätten die Herzglykoside ohne zuverlässige klinische Daten ihren festen Platz in der Therapie gehabt. Das eindeutige Ergebnis der MERIT-Studie sei noch lange nicht in den Köpfen aller Ärzten.
"Wir müssen die geeignete Medikation anhand aussagekräftiger klinischer Studien auswählen", so der Kardiologe. Goldstandard seien prospektive randomisierte Vergleichsstudien mit entsprechendem Design und "statistischer Power", die unabhängig ausgewertet werden. Retrospektive Untersuchungen wie Kohorten- oder Fall-Kontrollstudien bezeichnete Sigmund also genauso ungeeignet wie klinische Beobachtungen oder die Empfehlungen von Pharmareferenten.
Wie kritisch klinische Untersuchungen zu hinterfragen seien, mache auch die ELITE-Studie deutlich. In ELITE I verglichen Wissenschaftler den therapeutischen Wert des ACE-Hemmers Captopril und des Angiotensin-Antagonisten Losartan bei 700 Patienten mit Herzinsuffizienz. Unter Losartan sank die Mortalität gegenüber Capotopril signifikant. Um so überraschender reagierte die Fachöffentlichkeit auf die Ergebnisse der ELITE-II-Studie, die im November auf dem Kongress der American Heart Association in Atlanta vorgestellt wurden: Kein signifikanter Vorteil für den AT-II-Antagonisten bei einem Patientenkolektiv von rund 3000 Patienten.
"Wir sollten unsere Verordnungen kritischer hinterfragen und Aus- und Weiterbildung an Evidenz-basierter Medizin orientieren", folgerte Sigmund. Für diese qualitätsorientierte Arzneimitteltherapie müssten die Fachvertretungen der Ärzte- und Apotherschaft die nötigen Strukturen schaffen. Solche Standards sollten lieber aus der Praxis geboren, als vom Staat aufoktruiert werden, warnte der Mediziner.
Apotheker als patientenorientierter Begleiter
Wie fruchtbar der Informationsaustausch zwischen Pharmazeuten und Klinikärzten sein kann, beschrieb Kämmerer anhand seiner täglichen Arbeit in der Krankenhausapotheke. "Der Apotheker ist der patientenorientierte Begleiter der Arzneimitteltherapie", so der Referent. Er und seine Kollegen seien auch bereit, Verantwortung mit zu übernehmen. Es sei nicht akzeptabel, dass ein Apotheker in der Klinik Kisten packt.
Die Wiesbadener Klinikapotheke setzt auf einen Mix aus Qualitätsmanagement und Arzneimittelinformation. Gemeinsam mit der Ärzteschaft erarbeite man eine hausinterne Positivliste, die ständig nach neusten Erkenntnissen weiterentwickelt würde, sagte Kämmerer. Dabei stehe die Wirksamkeit stets im Vordergrund. Natürlich sei er aufgrund der strengen Budgetierung auch dazu gezwungen, pharmakoökonomische Aspekte zu berücksichtigen. Beispiel Antibiotika: Bei gleicher Wirksamkeit von parenteraler und peroraler Applikationsform sei es bis auf weniger Ausnahmen weder medizinisch noch wirtschaftlich gerechtfertigt, die wesentlich teureren Parenteralia einzusetzen.
Beim Erarbeiten von Therapieleitlinien müssten aber zum Beispiel auch die Kosten einer Folgeverordnung des niedergelassenen Kollegen bedacht werden, mahnte der Apotheker.
Für eine flächendeckende Begleitung der Ärzte auf Visiten reichen auch in Wiesbaden die personellen Ressourcen nicht aus. Kämmerer und sein Team beschränken sich deshalb auf einige Stationen. Die Apotheke bietet der Ärzteschaft zusätzlich umfassende Informationen zu Neben- und Wechselwirkungen einzelner Medikamente sowie Anwendungshinweisen an. Auch die regelmäßig erscheinende Zeitschrift der Klinikapotheke liefere den Medizinern wichtiges Know how rund um die Pharmakotherapie, berichtete Kämmerer.
Diese gute Zusammenarbeit lasse sich nicht von einem auf den anderen Tag realisieren.
Auch in den HSK-Kliniken hätten Ärzte und Apotheker einige Zeit gebraucht, um
miteinander warm zu werden.
© 1999 GOVI-Verlag
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