Kinder sind keine kleinen Erwachsenen |
11.11.2002 00:00 Uhr |
von Christiane Berg, Berlin
Kinder sind besonders schutzbedürftig. Ihre Arzneimitteltherapie bedarf spezieller Sorgfalt, betonten Ärzte und Pharmakologen auf einem Werkstattgespräch des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) am 30. Oktober. Die Experten warnten vor der juristischen, politischen und behördlichen Überprotektion, die zu ihrer weiteren therapeutischen Isolation führe.
Klinische Forschung an Kindern ist dringend notwendig, damit diese am medizinischen Fortschritt teilhaben. Nicht hinreichende Forschung an Kindern und Jugendlichen geht mit einem ausgedehnten „off label-use“ einher, warnte Dr. Klaus Rose, Basel.
„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“: Der kindliche Organismus unterscheidet sich massiv in der Ausreifung der inneren Organsysteme, führte Rose aus. Dieser Tatsache müsse bei einer medikamentöser Behandlung Rechnung getragen werden. Sei das bislang durch Herunterrechnen der Erwachsenendosen unter anderem auf das kindliche Gewicht geschehen, so werde der Andersartigkeit der noch kleinen Körper damit nicht Rechnung getragen. „Ohne klinische Studien an Kindern aller Altersgruppen ist eine verantwortungsbewusste Dosierung bei genauer Kenntnis etwaiger Nebenwirkungen nicht möglich“, sagte der Referent.
Unterschiede in Pharmakokinetik und Wirksamkeit müssen selbst bei Früh- und Neugeborenen, Säuglingen, Klein- und Schulkindern sowie Jugendlichen beachtet werden. So haben Neugeborene im Gegensatz zu älteren Kindern weniger Magensäure und Gallenflüssigkeit sowie eine geringere bakterielle Darmbesiedlung und Darmbeweglichkeit. Ihre Blut-Hirn-Schranke ist schwach, die Hautabsorption hoch, daher ist auch die Gefahr der Intoxikation bei lokaler Gabe von Medikamenten gegeben, schilderte Rose die anatomischen und pharmakologischen Gegebenheiten.
Minimierung der Invasivität
Die Verteilung von Arzneistoffen bei Kindern wird von einem höheren Anteil an Körperwasser, geringerer Muskelmasse und geringerer Eiweißbindung im Blut sowie einer starken Variation des Fettgehaltes (Frühgeborene: 3 Prozent, Neugeborene: 12 Prozent) bestimmt. Die Nierenfunktion bei Früh- und Neugeborenen ist erniedrigt. Schwankungen in der Körpertemperatur, aber auch Wechselwirkungen mit Medikamenten, die die stillende Mutter einnimmt, können den Stoffwechsel und die Ausscheidung von Arzneimitteln beeinflussen.
Neben den Vorschriften für Erwachsene müssen für Kinder zusätzliche Regeln gelten. Als Vorraussetzung für ihre Aufnahme in klinische Studien schilderte Rose unter anderem die Minimierung der Invasivität von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sowie von Zahl und Volumen an Blutentnahmen. Alternativ müssten weniger belastende Gewebeuntersuchungen (Urin, Speichel) sowie moderne Statistikmethoden zum Einsatz kommen. „Kinder sind immer Teil einer Familie. Kein Kind nimmt allein an einer klinischen Studie teil. Ihre Integration in Schule, Familie und Freundeskreis darf nicht gestört werden. Nicht zuletzt haben Kinder andere Vorstellungen von Krankheit, Krankenhaus und Forschung. Auch das muss in die Studienplanung mit einbezogen werden“, unterstrich der Referent.
Mitspracherecht
Die betroffenen Kinder brauchen ein Mitspracherecht, bestätigte Professor Dr. Jörg M. Fegert, Ulm. Unter Berücksichtigung der Entwicklungspsychologie und der kognitiven Voraussetzungen müssten alle Maßnahmen in eine einfache, für Kinder verständliche Sprache übersetzt werden. Die Information der Kinder sei „ein Wert an sich“. Fegert schlug die Kontrolle der hohen ethischen Anforderungen durch Selbsthilfegruppen und Betroffenenverbände hervor. „Wir bewegen uns auf einem schwierigen Terrain“, räumte auch Dr. Hans-J. Weber, Bad Homburg, ein.
Circa 20 Prozent der Verschreibungen in der pädiatrischen Praxis, sowie 50 bis 90 Prozent der Verordnungen auf normalen, onkologischen und neonatologischen Stationen erfolgen „off label“, sagte Professor Dr. Joachim Boos aus Münster. „Je schwerer die Krankheit, desto komplexer ist einerseits das Problemfeld der Zulassung, umso mehr Anspruch hat jedoch andererseits das Kind auf eine Behandlung mit vorhandenen Medikamenten“, so der Krebstherapeut.
Lücken der Kinderapotheke
Boos kritisierte die „wesentlichen Lücken“ in der Kinderapotheke gerade im Bereich der Kinderintensivmedizin, in der systematisch nicht geprüfte und zugelassene Arzneimittel wie Schmerzmittel, Antibiotika oder Zytostatika lediglich in direkter Verantwortung des Arztes als individueller Therapieversuch angewandt werden können. Als weiteres Problem käme hinzu, dass für Kinder spezielle galenische Zubereitungen der Wirkstoffe (Tropfen, Sirup, Saft, Kau- und Schmelztabletten, Zäpfchen, Pflaster, Nasenspray, nadelfreie Injektionsgeräte) erforderlich sind. Die verfügbaren Darreichungsformen seien zum Teil untauglich, zum Teil sogar gefährlich.
Boos: “Das Teilen von Tabletten ist schwierig, ungenau und manchmal sogar gefährlich. Der Esslöffel sicher kein geeignetes Messinstrument für hochwirksame Stoffe“. Der Onkologe nannte das Problem international. In Großbritannien, so eine Studie aus dem Jahr 1996, seien in 862 Fällen 70 Prozent der Verordnungen „off label“ vorgenommen worden. In Frankreich erfolgten laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2000 56 Prozent der Verordnungen für 989 Kindern mit für das Alter, die entsprechende Dosierung oder den Applikationsweg nicht zugelassenen Medikamenten.
Mehr gesellschaftliche Akzeptanz
Zuversichtlich zeigte sich der Geschäftsführer Forschung, Entwicklung und Innovation beim Verband Forschender Arzneimittelhersteller, Dr. Siegfried Throm. Einige der vom VFA zur Verbesserung der Situation vorgeschlagenen Maßnahmen sind bereits umgesetzt worden, sagte er. So sei eine Stärkung der Infrastruktur (Betten, apparative Ausrüstung, Ärzte, Pflegekräfte) für klinische Prüfungen mit Kindern unter anderem durch Einrichtung fünf pädiatrischer Module bei den Koordinierungszentren für Klinische Studien (KKS) in Heidelberg, Freiburg, Leipzig, Köln und Mainz zu verzeichnen.
Des weiteren sei eine Expertenkommission auf nationaler und europäischer
Ebene eingerichtet. Zudem vereinheitlichte man Anforderungen an
Kinderstudien durch eine entsprechende Leitlinie. Nach wie vor strebt der
VFA eine entsprechende Änderung des Arzneimittelgesetzes sowie eine
Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz von Kinderprüfungen an.
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