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Warnungen missachtet

13.08.2001  00:00 Uhr

CERIVASTATIN

Warnungen missachtet

von Ulrich Brunner, Eschborn

Bereits Anfang Juli hatte der Pharmakonzern Bayer vor Interaktionen zwischen dem CSE-Hemmer Cerivastatin und dem Fibrat Gemfibrozil mit einem Rote-Hand-Brief gewarnt. Anscheinend vergeblich: Da inzwischen mehr als 50 Todesfälle mit dem Lipisenker in Verbindung gebracht wurden, entschied sich das Unternehmen am vergangenen Mittwoch für einen weltweiten Vertriebsstopp von Lipobay®. Nur in Japan darf das Statin weiterhin verordnet werden, da dort Gemfibrozil nicht vermarktet wird.

Rund eine Milliarde Euro sollte Lipobay® alleine in diesem Jahr in die Konzernkasse spülen. Der CSE-Hemmer zählte damit zu den so genannten Blockbustern aus dem Hause Bayer. Am 8. August kam das Aus. Auf Grund zahlreicher Meldungen von teilweise tödlich verlaufenen Muskelschwächen, die eventuell in Zusammenhang mit der Einnahme von Cerivastatin in Kombination mit dem Fibrat Gemfibrozil (Gemvi® und Gevilon®) stehen, stoppte das Unternehmen nahezu weltweit den Vertrieb.

Das abrupte Ende der erfolgreichen Karriere von Lipobay kommt scheinbar überraschend, die muskelschädigende Wirkung des Statins ist jedoch seit Jahren bekannt. Bereit seit der Markteinführung von Cerivastatin im September 1997 wird in der Fachinformation vor Myopathien und einem Anstieg des Enzyms Kreatin-Phosphokinase gewarnt. Diese unerwünschten Wirkungen wurden jedoch nicht nur für Cerivastatin beschrieben, sondern sind typisch für die gesamte Stoffgruppe der Statine.

Der Begriff Myalgie beschreibt allgemein Muskelschmerzen, -steifheit und -krämpfe. Gehen solche Symptome mit pathologisch erhöhten Werten der Kreatin-Phosphokinase einher, bezeichnet man diese als Myopathie. Das Krankheitsbild darf jedoch nicht mit Muskelschmerzen verwechselt werden, die zum Beispiel nach Überbeanspruchung oder bei grippalen Infekten auftreten.

Bei der Rhabdomyolyse werden die Membranen der Skelettmuskelzellen beschädigt, Myoglobin aus zerstörten Muskelzellen gelangt ins Plasma und dann über die Nieren in den Urin. Daher ist die Myoglobinurie prinzipiell ein Alarmsignal. Die Rhabdomyolyse verläuft je nach Ursache bei 20 bis 60 Prozent der Patienten tödlich. Meist kommt es dabei zu einem akuten Nierenversagen.

Ursache unklar

Noch immer ist unklar, warum die Statine muskelschädigend wirken. Inzwischen gibt es allerdings zwei verschiedene Hypothesen zum Pathomechanismus. Ein Teil der Wissenschaftler glaubt, dass es durch eine zu starke cholesterolsenkende Wirkung der Statine zu einem Mangel der für die Zellmembranen wichtigen Bausubstanz kommt. Andere Forscher bringen den muskelschädigenden Effekt dagegen mit dem Coenzym Q in Verbindung. In einer klinischen Studie sanken die Coenzym-Q-Konzentrationen um bis zu zwei Drittel, wenn Patienten Statine einnahmen. Das Coenzym habe jedoch eine muskelprotektive Wirkung, postulieren die Wissenschaftler.

Ob und wie ausgeprägt sich unter Statintherapie eine Myopathie oder Rhabdomyolyse entwickelt, hängt wahrscheinlich direkt vom Ausmaß der cholesterolsenkenden Wirkung und damit auch von der Dosis der Lipidsenker ab. So ließe sich auch erklären, warum die gefährlichen Nebenwirkungen noch häufiger auftreten, wenn die Statine mit anderen Lipidsenkern wie den Fibraten kombiniert werden. Diese direkte Dosis-Wirkungsbeziehung könnte auch erklären, warum in den USA mehr Patienten an Muskelschwäche erkrankten oder daran starben. Denn in den Vereinigten Staaten vermarktet Bayer Lipobay auch mit der doppelten Dosierung. Die 0,8-mg-Tablette war in Deutschland bislang noch nicht zugelassen.

Jetzt kritisiert Bayer die Verschreibungspraxis US-amerikanischer Ärzte. Viele Mediziner in den Staaten verordneten direkt die Höchstdosis, obwohl in der Empfehlung eindeutig darauf hingewiesen wird, die Therapie mit einer niedrigeren Dosierung zu beginnen, sagte Dr. David Ebsworth, Leiter des Bayer-Geschäftsbereichs Pharma auf einer Pressekonferenz am Montag in Leverkusen.

Risikoabschätzung

Je nach Statin beziffern Experten das Risiko für Myopathien auf 0,05 bis 0,5 Prozent. Von 1989 bis 1998 wurden beispielsweise der Schweizerischen Arzneimittel-Nebenwirkungs-Zentrale (SANZ) 153 Fälle über unerwünschte Wirkungen gemeldet. Die Muskulatur war mit 25 Meldungen am häufigsten betroffen. Diese Zahlen decken sich mit Daten aus prospektiven Studien. Ernstere Zwischenfälle gab es sowohl mit einer Kombination aus Atorvastatin und dem bereits vom Markt genommenen T-Kanalblocker Mibefradil als auch unter Simvastatin, das ein Patient zusammen mit Gemfibrozil und Cyclosporin einnahm. Auch die Kombination aus Fluvastatin und Bezafibrat führte zu Nebenwirkungen auf die Muskulatur. Der Einfluss von Cyclosporin und Mibefradil lässt sich über deren Metabolismus erklären. Beide Substanzen werden wie einige Statine und zahlreiche andere Arzneistoffe, darunter auch Gemfibrozil, über Cytochrom P450 3A4 verstoffwechselt. Bei gleichzeitiger Gabe können die Plasmakonzentrationen der Statine stark ansteigen.

In einer aktuellen Arbeit in dem Fachjournal Annals of Pharmacotherapy beziffern Allen Shek und Mary J. Ferrill das Myopathierisiko unter einer Kombinationstherapie mit Statinen und Fibraten auf circa 0,12 Prozent. Dieses Risiko stehe in keinem Verhältnis zum Nutzen der Lipidsenker. Die Autoren fordern daher dazu auf, die Arzneistoffe nach einer ausführlichen Nutzen-Risiko-Abwägung zu verordnen und die Patienten möglichst engmaschig zu überwachen.

In diesem Sinne hatte Bayer bereits Ende 2000 versucht, die US-amerikanische Ärzteschaft für die Gefahr potenzielle Nebenwirkungen an der Muskulatur zu sensibilisieren. In Deutschland änderte das Unternehmen erst vor vier Wochen die Fachinformation und warnte explizit vor der Kombination mit Gemfibrozil. Leider anscheinend ohne Erfolg.

Myopathie und Rhabdomyolyse entwickeln sich nicht in Sekunden sondern über einen längeren Zeitraum. Ein aufgeklärter Patient wird sich im Zweifelsfall schneller bei seinem Arzt melden. Der Vermarktungsstopp von Cerivastatin dokumentiert, wie wichtig es ist, Arzneimittel bedarforientiert zu verordnen und die Patienten für potenzielle Nebenwirkungen zu sensibilisieren. Top

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