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Bei Allopathie und Homöopathie alles eine Frage der Dosis

19.07.1999  00:00 Uhr

-PharmazieGovi-Verlag

ZUR DISKUSSION GESTELLT

Bei Allopathie und Homöopathie alles eine Frage der Dosis

von Thomas Scior, Puebla, Mexiko

Im Gegensatz zur Allopathie geht die homöopathische Lehre davon aus, daß die Bioaktivität eines Heilmittels beim Verdünnen ansteigt. In der früheren Medizin war diese Beobachtung wohl oft zutreffend, da Überdosierungen dem Kranken mehr schadeten als nützten. Dosis facit remedium: Die Individualisierung der Arzneistoffmenge scheint heute die adäquate Antwort der Allopathie auf die offenkundige Harmlosigkeit homöopathischer Zubereitungen zu sein.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte konnte der molekulare Wirkungsmechanismus vieler Arzneistoffe aufgeklärt werden. Dabei handelt es sich immer um eine physiko-chemische Wechselwirkung auf molekularer Ebene zwischen dem Wirkstoff und dem biologischen Gewebe, also mit zellulären oder extrazellulären stereochemischen Substrukturen. Rezeptor-Ligand-Modelle dienen in vielen Fällen als Erklärung und stellen ein wichtiges Kapitel der modernen Pharmakologie dar. Diese ist fester Bestandteil der akademischen Schulmedizin und der Pharmazieausbildung.

Für diesen Bereich der heutigen Pharmakotherapie prägte der Gründer des homöopathischen Heilverfahrens, Samuel Hahnemann (1755 bis 1843), den Begriff Allopathie. Er leitet sich von den griechischen Worten für "allos", anderer, und "pathos", Leiden ab. Verkürzt gesagt, wird das Leiden oder die Krankheit durch einen anderen, entgegengesetzt wirkenden Stoff bekämpft.

Dosis facit venenum

Seit der Antike weiß der Mensch, daß schädliche Wirkungen eines Stoffes bis hin zur Vergiftung mit der eingenommen Dosis zunehmen, was sich in lateinischen Lehrsätzen wie "Dosis facit venenum" wiederfindet. Im Gegensatz dazu bedient sich die Homöopathie der schrittweisen Verdünnung, der "Potenzierung", um die arzneiliche Wirkung zu steigern. Der Apotheker verarbeitet Kleinstmengen von Stoffen, die nach den Regeln der Homöopathie in größeren Mengen die gleichen ("homeo") Symptome auslösen, zu homöopathischen Arzneiformen.

Der prinzipielle Unterschied zwischen beiden pharmakotherapeutischen Welten liegt in der Menge an bioaktivem Stoff, die dem Patienten verabreicht wird. Die Bedeutung der Wirkstoffkonzentration im menschlichen Körper kann man wissenschaftlich aufzeigen, wenn man die Häufigkeit von erwünschten und unerwünschten Wirkungen in Abhängigkeit von der verabreichten Dosis beschreibt. Dennoch ermöglicht die Komplexität jeder Erkrankung eine sehr große Zahl an Krankheitsbildern oder Variabilität.

Mehr als die handwerkliche Reparatur eines technischen Defektes, die den strengen Gesetzen der klassischen Physik zuverlässig und stets reproduzierbar folgt, erreicht die Behandlung des Lebenden die magisch anmutende Dimension einer "Kunst". Immerhin kann der Mensch beschrieben werden als ein galaktisches Puzzle aus über 70 Billionen Zellen mit ungefähr 1030 biochemischen Reaktionen.

Dosisvariation in der Allopathie

Die allopathische Behandlung beruht auf den rechtlich geforderten Prinzipien der Wirksamkeit und Unschädlichkeit. Im allgemeinen werden aufgrund der ärztlichen Erfahrung Standarddosen von Arzneistoffen appliziert, die auch in Dosierungstabellen für die Fachkreise aufgelistet sind. Jedoch erzielt man mit Normdosen nicht unbedingt eine optimale biologische Antwort des Körpers. Schwere bis letale Schäden können beispielsweise bei einer Niereninsuffizienz auftreten. Mittlerweile ist auch der rhythmische Einfluß der Tageszeit durch die Chronopharmakologie wissenschaftlich bewiesen.

Der Arzt paßt im individuellen Fall die Menge den persönlichen Voraussetzungen wie Alter, Gewicht oder Stoffwechsel an. Der Apotheker wird die Abweichungen von den im Beipackzettel angegebenen Dosierungsschemata bei der Arzneimittelabgabe besprechen.

Homöopathie: Verdünnung  oder Potenzierung

Im Gegensatz zur allopathischen Pharmakologie spricht die homöopathische Lehre vom Ansteigen der Bioaktivität eines Heilmittels beim Verdünnen. In der früheren Medizin war diese Beobachtung wohl oft zutreffend, und die Rückschlüsse, die ihr Gründer Hahnemann zog, retteten vielen Patienten das Leben.

So nimmt man an, daß der Komponist klassischer Wiener Hofmusik, Wolfgang Amadeus Mozart, durch chronische Vergiftung sehr jung verstorben ist. Damals war Quecksilber, ein bei Zimmertemperatur flüssiges Metall, ein integraler Bestandteil vieler "reinigender" Mittel aufgrund seines laxierenden Effekts. Vor zwei Jahrhunderten wußte man jedoch nichts über die Existenz der therapeutischen Dosis, die zwischen subtherapeutischer und toxischer oder letaler Dosis liegt. Heilmittel mußten "stark" in der Wirkung sein oder einfach den Kranken "stärken".

Man kann davon ausgehen, daß sich mancher Krankheitsverlauf iatrogen ernsthaft verschlechterte. Die Ärzte verabreichten dem Kranken allerlei Pulver aus Mineralien, Metallstaub, Tier- und Pflanzenteilen in phantastischen Mengen, die man heute schlicht als Überdosis qualifizieren würde. In diesen Fällen besserte eine Verminderung der Substanzmenge den Zustand des Patienten, weil die Plasmakonzentration aus dem toxischen in den unschädlichen, therapeutischen bis subtherapeutischen Bereich zurückfiel.

Diese positive, manchmal lebensrettende Erfahrung veranlaßte Hahnemann zu der Annahme, daß durch gezielte Verdünnung auch die übrigen Fälle zu heilen seien. Seine Lehre verbreitete sich stark im neunzehnten Jahrhundert, als die Dosimetrie für die Medizin noch unbekannt war. Die Homöopathie als unschädliche und personenbezogene Behandlung profitiert heute zunehmend von den psychosomatischen Eigenschaften bestimmter Krankheitsverläufe.

Die Menge macht´s

Die Beziehung zwischen gewünschter Wirkung und Nebenwirkung spielt eine herausragende Rolle bei der Entscheidung über die Anpassung des standardisierten Einnahmeschemas allopathischer Mittel. Die Minimaldosis im therapeutischen Bereich entwickelt die volle Arzneistoffwirkung bei gleichzeitiger Verminderung von Nebenwirkungen. Bei (zu) hohen Applikationsmengen, wie sie zum Beispiel in der Chemotherapie zwingend sind, zeigt sich ein "in den Vordergrund schieben" von Nebenwirkungen, die der Krebspatient zunehmend als unerträglich empfindet.

Heutzutage ist die Dosierungsindividualisierung eine interdisziplinäre Routinearbeit im Klinikalltag zwischen Medizinern und Pharmazeuten. Subjektiv wird dadurch die Lebensqualität des Patienten gesteigert, aber durch den personellen und apparativen Aufwand ergeben sich starke ökonomische Einschränkungen in der Anwendung eines Dosismonitoring.

Wissenschaftlicher Fortschritt

Dank der Etablierung wissenschaftlicher Methoden besitzen sowohl allopathische wie auch homöopathische Arzneimittel die in Arzneibüchern und internationalen Standards festgeschriebene pharmazeutische (Herstellungs-)Qualität. Mit der Weiterentwicklung der Arzneimittellehre haben sich wissenschaftliche Erkenntnisse auf allen Gebieten der Pathophysiologie und Pharmakologie angesammelt, auf die sich heute die Allopathie berufen kann. Im Gegensatz zu dieser dynamischen Entwicklung basiert die Homöopathie auf der Autorität einer historischen Person mit dem Wissen seiner Zeit. Hahnemann schuf so eine statische und monolithische Theorie. Er geht aus von einer "Potenzierung" der Heilkräfte durch stoffliche Verdünnung der Substanzen, die im Organismus die gleichen Krankheitssymptome erzielen können, die man bekämpfen will. Dies besagt der Lehrsatz "Similia similibus curentur".

Überraschenderweise kann der Ausspruch "Contraria contrariis curentur" die Allopathie nicht vollständig erfassen. Einige Infektionskrankheiten kann man heute mit Impfungen aktiv bekämpfen, was man mit dem Lehrsatz der Homöopathie beschreiben könnte. Der immunologische Wirkmechanismus beruht jedoch nicht auf dem homöopathischen Verdünnungsprinzip. Vielmehr werden durch die Herstellung ganze Krankheitskeime oder deren Teile attenuiert (abgeschwächt), um auf ähnliche Weise (similis) wie das Pathogen das Abwehrsystem des Körpers zu aktivieren.

Welches ist die nützlichere Heilrichtung?

Aus dem Blickwinkel der Statistik fällt eine Antwort leichter. Von einem allopathischen Arzneimittel werden gesetzlich die statistischen Nachweise über Güte, Unschädlichkeit und Wirksamkeit gefordert. Im besonderen muß der allgemeine Nutzen bei bestimmungsgemäßem Gebrauch die Risiken überwiegen.

Natürlich dokumentieren die Anhänger der Homöopathie ihre Erfolge, aber es mangelt an statistisch zuverlässigem Material. Sie reihen Beschreibungen von erfolgreichen Einzelfällen aneinander, jedoch läßt sich ohne Statistik nichts über Ursache-Wirkungs-Beziehungen aussagen. Selbst die Anwendung bei Kindern oder gar Tieren ist kein Argument. Wirkte tatsächlich das Medikament, die homöopathischen Tropfen heilend auf den Hund von Frau "Keinezeit"? Oder war es nicht eher die vermehrte Aufmerksamkeit des Frauchens, der Ortswechsel vom Balkon in das ruhigere Wohnzimmer, der veränderte Speiseplan, der sanftere Umgang der Kinder mit dem Hund? Was ist Faktor oder Kofaktor der subjektiven Besserung?

Zudem tendieren einige Krankheiten wie Hautverletzungen und Gastritis zur Selbstheilung. Allzuoft ist nicht wirklich klar, was ausschlaggebend, allein- oder mitverantwortlich war für die Erkrankung und die Genesung. Die medizinische Terminologie umschreibt dies mit idiopathisch, endogen, neurovegetativ oder psychosomatisch.

Angesichts der heute immer noch möglichen Erkenntnismängel scheint die homöopathische Heilkunst zumindest eine preiswerte und an sich harmlose Behandlungsmethode zu sein, die die Toleranz der Allopathie dann verdient, wenn sie nicht mehr verspricht als ihr historischer Hintergrund erlaubt.

Anschrift des Verfassers:
Dr. Thomas Scior
Departamento de Farmacia
Facultad de Ciensias Quimicas de la BUAP
C.P. 72570 Puebla Mexico

Für anregende Gespräche möchte ich Apothekerin S. Roth, Karlsruhe, Apotheker H. Uhlmann, der Belegschaft seiner Schwarzwald-Apotheke, Baiersbronn, sowie deren diskussionsfreudigen Kunden und Kurgästen danken.

Gewidmet Professor Dr. Hermann Josef Roth, Universität Tübingen, anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Puebla, Mexiko am 14. Mai 1999. Top

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