Forschung unterm Holstentor |
09.07.2001 00:00 Uhr |
HIGHLIGHT-KONGRESS
Die hochkarätige Mischung aus aktueller Forschung präsentiert von Top-Wissenschaftlern unter Moderation von PZ-Chefredakteur Dr. Hartmut Morck, das anspruchsvolle kulturelle Ambiente der alten Hansestadt und die besondere Art von Geselligkeit, die dieser Tagung ihren ganz eigenen Reiz verleihen, prägten den 4. Highlight-Kongress der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) und der Pharmazeutischen Zeitung vom 6. bis 8. Juli in Lübeck. Vom "sicherlich etwas anderen Kongress", sprach DPhG-Präsident Professor Dr. Theo Dingermann bei der Begrüßung und zeigte sich erfreut über die hohe Teilnehmerzahl. "Nie haben wir mehr Apothekerinnen und Apotheker begrüßen können als in diesem Jahr".
Fortbildung auf hohem wissenschaftlichen Niveau konstatierte auch der stellvertretende Vorsitzende der Apothekerkammer Schleswig-Holstein, Holger Iven, der die 175 Teilnehmer im Namen der schleswig-holsteinischen Apothekerinnen und Apotheker in seiner Heimatstadt willkommen hieß. "Nur Fortbildungsveranstaltungen wie der Highlight-Kongress gewährleisten, dass wir mit den teilweise rasanten Entwicklungen auf dem Arzneimittel-Markt Schritt halten und die neuesten Erkenntnisse im Sinne des Patienten nutzen können", betonte er. Psychosoziale und pharmazeutische Betreuung auf hohem Standard sind notwendig, um den Apotheker, die Apothekerin unentbehrlich zu machen, so Iven, der die Bedeutung der Beratungsqualität für den Patienten in der Apotheke hervorhob.
Auch in diesem Jahr bot der Kongress eine bunte Mischung faszinierender wissenschaftlicher Vorträge. Namhafte Referenten berichteten von ihren eigenen Forschungsarbeiten.
Listige Viren
"Keine Zähmung der Widerspenstigen - wie Viren unser Immunsystem ausschalten" überschrieb Professor Dr. Robert Tampé vom Institut für Biochemie der Universität Frankfurt seinen Vortrag. "Die Viren sind uns normalerweise immer einen Schritt voraus", sagte der Wissenschaftler. Kein Grund zur Resignation: "Wir können von den Viren lernen, um zum Beispiel hochspezifische Medikamente zu entwickeln."
Das menschliche Immunsystem hat im Laufe der Evolution Mechanismen entwickelt, um selbst Krankheitserreger, die sich innerhalb der körpereigenen Zellen aufhalten, sowie Tumorzellen zu vernichten. Im Zentrum dieser Abwehrstrategien stehen zytotoxische T-Zellen, auch Killerzellen genannt, die zwischen eigen und fremd unterscheiden können. Sie tasten permanent die Zellen des Körpers ab, auf der Suche nach winzigen Hinweisen auf fremde Strukturen oder auf entartete Zellen.
Einige fremde Moleküle reichen aus, um den Prozess einzuleiten, an dessen Ende die Lyse der Zelle steht. Die zytotoxische T-Zelle bombardiert dazu die Zielzelle mit einzelnen Perforin-Molekülen. Die Perforine dringen in die Membran der Zelle ein, lagern sich zu Poren zusammen und der Zellinhalt läuft aus - wie ein Autoreifen, in den eine Nadel gestochen wird, erklärte Tampé.
Wie erkennt die Immunzelle fremde Moleküle unter den zahlreichen eigenen auf der Zelloberfläche? Verantwortlich dafür sind Rezeptoren, die auf allen kernhaltigen Körperzellen vorhanden sind, die MHC-Moleküle der Klasse I (MHC = Major Histocompatibility Complex). Wie auf einem Tablett präsentieren diese Moleküle den zytotoxischen T-Zellen kleine Protein-Schnipsel. Die Peptide aus acht bis zehn Aminosäuren stammen aus allen möglichen Proteinen innerhalb der Zelle. Interaktionspartner der MHC-Klasse-I-Moleküle auf der zytotoxischen T-Zelle ist der T-Zell-Rezeptor. Damit dockt dieser an die MHC-Moleküle auf der Oberfläche der anderen Zellen an. Die zytotoxische T-Zelle ist gegenüber eigenen Peptiden tolerant. Nur wenn fremde Peptide von einem MHC-Klasse-I-Komplex präsentiert werden, beginnt sie ihr zerstörerisches Werk.
Zerkleinert und präsentiert
Wie entstehen die Peptide und wie gelangen sie an die Zelloberfläche? Endogene Proteine, seien es nun eigene Moleküle, die in jeder gesunden Zelle vorhanden sind, Virusproteine oder Tumormarker, werden von einer multikatalytischen Enzymmaschinerie, dem so genannten Proteasom-Komplex, in kleine Stücke zerschnitten. Die Fragmente gelangen ins Endoplasmatische Reticulum (ER), wo molekulare Anstandsdamen - die so genannten Chaperone - dafür sorgen, dass MHC-Klasse-I-Moleküle entstehen. Die das Peptid präsentierenden Moleküle gelangen über den Golgi-Apparat an die Zelloberfläche.
Eine Schlüsselposition innerhalb dieses Prozesses nimmt ein Protein-Komplex ein, der die Peptide aus dem Zytoplasma ins ER transportiert. Es handelt sich um den so genannten TAP-Komplex. Die Abkürzung steht für "Transporter associated with Antigen Processing". Der TAP-Komplex besteht aus zwei unterschiedlichen Proteinen, beide enthalten eine Domäne, die in die Membran eingebettet ist, und eine ATP-bindende Domäne. Die zwei Proteine zusammen bilden eine Pore, durch die die Peptide unter Verbrauch von ATP vom Zytosol ins Lumen des ER transportiert werden, erklärte Tampé.
Wie kann ein einziger Transporter eine Million unterschiedliche Peptide transportieren? Mit Hilfe von Peptid-Bibliotheken, die eine riesige Menge verschiedener Proteinfragmente enthielten, wiesen Tampé und seine Mitarbeiter nach, dass Peptide einer Länge von 8 bis 16 Aminosäuren transportiert werden. Für die Selektivität sind die C-terminale Aminosäure sowie die drei Positionen vor dem N-Terminus wichtig. Der Transporter erkennt die Peptide an beiden Enden - wie man eine heiße Kartoffel anfassen würde, erklärte Tampé. Die Aminosäuren dazwischen sind variabel.
Ko-Evolution
Die MHC-Klasse-I-Moleküle erkennen die Peptide an ähnlichen Bereichen wie der Transporter. Dadurch bleiben die Aminosäuren dazwischen für die Interaktion mit dem T-Zell-Rezeptor der zytotoxischen T-Zellen frei. Transporter und MHC-Klasse-I-Moleküle haben sich offensichtlich in einem ko-evolutiven Prozess entwickelt, ohne direkt miteinander zu tun zu haben, erklärte Tampé.
Angesichts dieser ausgeklügelten Strategien scheinen Viren kaum eine Chance zu haben, dem Immunsystem zu entwischen. Offensichtlich tun sie dies dennoch. Herpesviren können zum Beispiel lebenslang im Körper persistieren. Die Erklärung dafür lieferten Tampé und seine Mitarbeiter: Sehr früh nach der Infektion der Zellen sorgen Herpesviren für die Produktion eines Proteins namens ICP47. Die Wissenschaftler entdeckten, dass dieses Protein den Transport der Peptide ins ER blockiert. Es legt sich offensichtlich auf die Bindungstasche des Transport-Komplexes - mit wesentlich höherer Affinität als die Peptide. Die Zellen können dadurch keine MHC-Klasse-I-Moleküle in ihrem ER zusammenbauen, ihre Oberfläche ist wie leergefegt und sie entgehen so den zytotoxischen T-Zellen.
Tampé und seine Mitarbeiter identifizierten den Teil des Proteins, der für die Blockade des Transporters essenziell ist und entdeckten, dass dieser Teil immunsuppressiv wirkt. Bei den humanen Cytomegalie-Viren identifizierten die Wissenschaftler ein Protein mit ähnlicher Funktion. Es greift allerdings nicht von der zytosolischen Seite her an, sondern von der ER-Seite, verhindert die ATP-Bindung und verstopft den Kanal.
Integrine im Visier
"Von einer Zielstruktur zu einem kleinen Molekül", das spezifisch in die Bildung von Metastasen eingreift, so stellte Professor Dr. Horst Kessler die Strategie bei der Suche nach neuen Krebsmedikamenten vor. Integrine sind die Zielstrukturen, die Kessler und seine Mitarbeiter derzeit im Visier haben. Die Oberflächenmoleküle vermitteln den Kontakt von einer Zelle zur anderen sowie zur extrazellulären Matrix. Bei der Bildung von Metastasen spielen sie eine wichtige Rolle. Verlieren die Tumorzellen den Kontakt zu benachbarten Zellen und zur extrazellulären Matrix, gehen sie in den programmierten Selbstmord über. Mit Molekülen, die Integrine blockieren, könnte man diesen Prozess anstoßen und damit die Tumorzellen unschädlich machen.
Integrine bestehen aus einer a- und einer b-Untereinheit, von denen es jeweils verschiedene Typen gibt. Je nachdem, welche a- mit welcher b-Untereinheit verknüpft wird, entstehen unterschiedliche Integrin-Subtypen.
Integrine erkennen die Proteine der extrazellulären Matrix über kurze Aminosäuremotive. Die Abfolge Arginin, Glycin und Asparaginsäure (RGD) ist zum Beispiel das Erkennungsmotiv von Integrinen in vielen Proteinen. Bei einer so kurzen Aminosäureabfolge stellt sich die Frage, warum verschiedene Integrine verschiedene Substratspezifitäten haben. Die Hypothese einiger Wissenschaftler geht von weiteren Aminosäuren in der Umgebung des RGD-Motivs aus, die die Spezifität ausmachen. Kessler und sein Team waren jedoch davon überzeugt, dass die Konformation der drei Aminosäuren Erkennung und Bindung durch die Integrine maßgeblich beeinflusst.
Kleine Ringe
Sie entwickelten zyklische Peptide aus fünf beziehungsweise sechs Aminosäuren und veränderten die Konformation der Aminosäure-Abfolge RGD durch die Zahl und die Position von D-Aminosäuren innerhalb des Rings. "D-Aminosäuren stabilisieren die Konformation", erklärte Kessler. Die Forscher suchten so nach einem spezifischen Antagonisten des Integrins avb3, das bei der Angiogenese eine Rolle spielt.
Mit einem Fünferring waren sie erfolgreich. Das Peptid mit der Aminosäureabfolge Arginin, Glycin, Asparaginsäure, D-Phenylalanin, Valin (RGDfV) hemmte die Neubildung von Blutgefäßen bei implantierten humanen und tierischen Tumoren. In einer modifizierten Form wird das zyklische Peptid derzeit von der Firma Merck in klinischen Studien der Phase II zur antiangiogenetischen Therapie bei Tumoren getestet.
Eine weitere Einsatzmöglichkeit bieten diese Wirkstoffe als Biomaterialien. Wird das Peptid RGD über einen Acrylamid-Anker auf Oberflächen aufgebracht, so sorgt es im Gegensatz zum oben genannten Einsatzgebiet für die Adhäsion von Zellen. Dies soll in Zukunft bei der Implantation von Materialien genutzt werden. Dass Osteoblasten in mit RGD überzogene Kügelchen einwandern und beginnen, sich zu teilen, konnte Kessler im Tierversuch bereits zeigen. Mit dem ersten Einsatz beim Menschen sei in naher Zukunft zu rechnen.
Nachteil der Peptide: Deren Herstellung ist sehr teuer. Kessler und seine Mitarbeiter konzentrieren sich daher nun auf Diacylhydrazine, die auf Grund der Konformation als Peptidomimetika agieren. Die Wissenschaftler haben in einer Bank von Diacylhydrazinen bereits einzelne Substanzen identifiziert, die spezifisch mit Integrinen in Wechselwirkung treten.
Paradigmenwechsel
Neue Erkenntnisse zur Schmerzphysiologie stellte Professor Dr. Walter Zieglgänsberger, München, vor. Der Mediziner für Klinische Pharmakologie sprach von einem Paradigmenwechsel in der Bewertung von Schmerz. Akuter Schmerz kann chronisch werden, nicht jeder akute Schmerz hingegen wird chronisch, sagte er.
Akute Schmerzen hätten eine außerordentliche Bedeutung für das Überleben des Menschen. Dem chronischen Schmerz hingegen sei keinerlei Sinn zuzuschreiben, so Zieglgänsberger, der nicht die Ansicht teilt, dass der Schmerz den Menschen "veredelt". Der Neurophysiologe verwies auf das schwere Schicksal der vielen Schmerzpatienten, die keine Hoffnung mehr sehen und ihrem Leben oft selbst eine Ende setzen.
Unter den Stichworten "multigenetisches Konstrukt" und "aktivitätsbezogene Genexpression" schilderte Zieglgänsberger die Aktivierung multinodaler Nozizeptoren, die zu neuroplastischen Veränderungen sowie zum Aufbau eines Schmerzgedächtnisses im Gehirn führen. Die bei wiederholter Einwirkung aktivierten Hirnstrukturen zeigen schließlich eine erhöhte Reaktionsbereitschaft, die man heute mit bildgebenden Verfahren sichtbar machen kann.
Die Forscher vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München suchen nach Faktoren, die der Chronifizierung entgegenwirken. Zudem erforschen sie deszendierende Hemmvorgänge, die erste Schaltstellen hemmen und so den Signaleingang und die Signalweitergabe an das Gehirn über Interneurone stoppen.
Schmerz in der Peripherie stoppen
Zieglgänsberger hob die Bedeutung von L-Glutamat und Substanz P für die Freisetzung von Neurotransmittern im Gehirn und Aufrechterhaltung des Schmerzgeschehens sowie Möglichkeiten des therapeutischen Eingriffs unter anderem auf der Ebene der Natrium-Kanäle in der Peripherie hervor. Diese verfügen über zahlreiche Isoformen, die wiederum auf jeweils andere Medikamente ansprechen.
"Wenn wir in der Peripherie alles auffangen können, bevor die Meldung Schmerz ins Gehirn gelangt, dann ist schon vieles gewonnen", so der Referent. Der chronische Schmerz gehe oftmals mit einem Leidensdruck einher, der selbst für den Arzt belastend sei. "Alles muss geschehen, um Betroffene schmerzfrei zu halten, damit diese die Chance haben, den Schmerz zu vergessen."
Die Grenzen der Wissenschaft
Dass die Decodierung des menschlichen Genoms nicht der Weisheit letzter Schluss ist, betonte Professor Dr. Burghardt Wittig von der Freien Universität Berlin. Welchen Einfluss die Gene zum Beispiel auf die Gestaltbildung haben, sei noch völlig unklar. So könne man nicht allein aus den Unterschieden zwischen den Genomen von Schwein und Mensch erklären, "warum ein Schwein ein Schwein und ein Mensch ein Mensch ist".
Auch bei der Reaktion auf die Umwelt tun sich Wissenschaftler schwer, einen Zusammenhang zum Erbmaterial herzustellen. "Mit der reduktiven Beweisführung der Naturwissenschaften werden wir vielleicht nie die Funktion des Gehirns verstehen", gab Wittig zu bedenken.
Nur 1 bis 4 Prozent des gesamten Genoms codiert für Gene. Der Rest ist wahrscheinlich für die Steuerung der Genexpression verantwortlich. Wie dies erforscht werden solle, sei auch den Bioinformatikern noch völlig unklar.
Auch auf anderer Ebene käme man mit der reduktiven Betrachtung der Naturwissenschaften nicht weiter. So sei ungeklärt, warum eine Aminosäurekette identischer Sequenz bei gesunden Menschen eine - bislang noch unbekannte - Funktion im Gehirn erfüllt, während sie aus unerfindlichen Gründen bei Patienten mit der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit unlösliche Fibrillen bildet, die die dazwischen liegenden Nervenfasern langsam zerquetscht.
Impfung mit DNA
Dass man die Gentechnik und daraus direkt resultierende Therapien jedoch heute bereits nutzt, zeigte Wittig im zweiten Teil seines Vortrags. Die von ihm mitgegründete Firma Mologen entwickelt Verfahren zur genetischen Impfung. Dabei wird die genetische Information für Proteine in Form von DNA in die Haut injiziert. Die Hautzellen produzieren dann die entsprechenden Eiweißmoleküle selbst. Gleichzeitig wird eine Entzündungsreaktion hervorgerufen, die die natürlichen Killerzellen des Immunsystems aktiviert. So könnte man zum Beispiel gegen Infektionskrankheiten impfen oder aber das Immunsystem gezielt im Kampf gegen Tumore einsetzen.
Die Technologie des Unternehmens basiert auf zwei Erfindungen: den MIDGE®-Vektoren und den als dSLIM bezeichneten DNA-Konstrukten. Midge steht für "minimalistic immunogenically Defined Gene Expression". Es handelt sich um sehr kurze DNA-Moleküle, die nur die nötigsten Informationen enthalten. Deren Enden sind mit einzelsträngigen Schleifen verschlossen, die chemisch modifiziert werden können. Ein weiterer Vorteil dieser Moleküle ist, dass sie im Gegensatz zu anderen Vektoren die Kernmembran passieren.
Bei dSLIM (double Stem Loop Immuno Modulators) handelt es sich um kurze, hantelförmige DNA-Konstrukte, die nicht für Proteine codieren. Sie gehören zu den stärksten Aktivatoren von Entzündungsreaktionen, erklärte Wittig. Die DNA-Moleküle verhalten sich wie ein Adjuvans und aktivieren zytotoxische T-Zellen.
Einsatz bei Krebs
Die genetische Vakzinierung gegen Tumore wird derzeit in klinischen Studien bei Patienten mit Nierenkarzinomen, Colon-Karzinomen und Multiplen Myelomen erprobt. Beim Nierenkarzinom sei die Phase I/II abgeschlossen, und zum ersten Mal habe man eine Reaktion auf eine solche Therapie beobachtet, sagte Wittig. Die Patienten befanden sich zu Beginn der Therapie in fortgeschrittenem Stadium der Erkrankung. Ihnen wurden Zellen aus dem eigenen Primärtumor, die mit Genpaketen aus Midge-Vektoren und dSlim bestückt waren, in die Haut injiziert. Die Midge-Vektoren enthielten Sequenzen, die die Produktion immunologischer Botenstoffe zusätzlich anregten. Bei der Hälfte der Patienten habe sich die Krankheit stabilisiert, bei der anderen Hälfte sei sie weiter fortgeschritten; bei 20 Prozent habe man eine Remission beobachtet, bei 20 Prozent der Patienten seien die Metastasen völlig verschwunden. Eine klinische Studie der Phase II/III werde derzeit in Angriff genommen.
Thomas Mann und die Medizin
In der Stadt Thomas Manns darf ein Vortrag über das Werk des Schriftstellers nicht fehlen. "Gesundheit und Krankheit - Das ist der Unterschied": Professor Dr. Dietrich von Engelhardt, Medizinische Universität zu Lübeck, schilderte die Welt der Medizin im Werk von Thomas Mann, der Krankheit und Gesundheit mit der Natur in tiefere Verbindung gebracht hat. "Histologie und Pathologie, Arzt und Therapie, medizinische Institutionen, Geburt und Tod, Symbolik" zeigte der Referent als Dimensionen auf, in denen man die Welt der Medizin im Werk von Thomas Mann verstehen kann.
Nicht zuletzt wohl auch, weil dieser in seiner eigenen Kindheit und Familie viele Krankheiten, Todesfälle und Selbstmorde hat erleben müssen, habe Thomas Mann die Welt der Medizin in vielen seiner Romane dargestellt. "Wenn man seine Vita kennt, meint man sein Werk zu kennen. Es gibt Hinweise, aber man sollte den Unterschied zwischen Kunst und Leben nicht vergessen", so von Engelhardt. Immerwährende physische Gesundheit: "Das wäre der Tod der Kunst", habe Thomas Mann erkannt. Ohne Leid und ohne Schmerzen gäbe es keine Kunst, Theologie, Literatur und soziales Engagement.
Multifaktorielle Ursache
Gesundheit ist die Fähigkeit, mit Krankheit und Behinderung leben zu können, so hätte es Thomas Mann definiert. Der Umgang mit Krankheit könne manchmal eindrucksvoller sein als das Erleben von Gesundheit, so auch von Engelhardt. "Wen die Götter lieben, den schlagen sie", sei nicht nur ein Gedanke der Mythologie. Gott bringt dem Menschen die Krankheit, um ihn zu prüfen, so laute auch die Botschaft im "Zauberberg". Thomas Mann habe erkannt, dass die Ursache des Krankseins multifaktoriell und weitgespannt zu sehen ist.
Der Schriftsteller hat sich von großen Philosophen anregen lassen, so von Engelhardt. Er habe sich unter anderem an Aristoteles orientiert, der Stoff und Materie, Wirk-, Sinn- und Formursache als die vier Ursachen von Krankheit definierte. So sei auch in dem Roman "Der Zauberberg" die Tuberkulose nicht nur eine Infektion. Die Erkrankung stehe ebenso wie der Aufstieg und Niedergang der Familie Buddenbrook im sozialen und kulturellen Kontext ihrer Zeit.
Soziales und kosmisches Ereignis
Krankheit ist ein "kosmisches Ereignis", so Mann, der in seinen Romanen darüber hinaus Masern, Gelbsucht, Kinderkrankheiten, nervöse Störungen parallel zum Verfall der Familie oder auch Zahnerkrankungen als Symbol für die Gefährdung der Vitalität dargestellt hat. "Leben ist durch und durch ein steter Wechsel der Materie unter festem Beharren der Form", so hat Mann es formuliert. Von Engelhardt konstatierte, dass Mann im "Zauberberg" alle diagnostischen Möglichkeiten der Zeit mit tiefen Reflexionen verbunden gemäß des Zieles "Erkenne Dich selbst" dargestellt hat.
Die Wissenschaft des Arztes tötet seine Humanität: In diesem Kontext müsse man die Ärzte bei Thomas Mann sehen. Auch Geburt und Tod werden bei Thomas Mann in große Nähe gebracht, die Ethik des Sterbenden werde von ihm in einmaliger Weise dargestellt, so der Referent, dessen Arbeitsschwerpunkte unter anderem Medizinische Ethik, Medizin und Wissenschaftshistoriographie sowie Medizin in der Literatur der Neuzeit sind. Von Engelhardt schloss mit einer Reflexion des Autors: "Wenn eine Epoche der Frage nach dem Sinn ein hohles Schweigen entgegensetzt, so wird gerade in Fällen redlicheren Menschentums eine gewisse lähmende Wirkung solchen Sachverhaltes fast unausbleiblich sein, die sich auf dem Wege über das Seelisch-Sittliche geradezu auf den physischen und organischen Teil des Individuums erstrecken mag."
Weltkulturerbe Lübeck
Dem Charme der Stadt der Buddenbrooks entsprach das Rahmenprogramm. Neben einem Empfang durch die Stadt Lübeck im Audienzsaal des historischen Rathauses und einem Konzert in der Musikhochschule mit Werken von Schubert, Schumann und Mozart standen ein Gesellschaftsabend im Historischen Saal der Schiffergesellschaft sowie ein literarischer Rundgang durch die Stadt an, die 1987 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Lübeck war ein würdiger Rahmen für den inzwischen traditionellen Highlight-Kongress.
© 2001 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de