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Krebsmedikamente aus dem Meer

30.06.2003  00:00 Uhr
Weichteilsarkom

Krebsmedikamente aus dem Meer

von Kerstin A. Gräfe, Mannheim

Weichteilsarkome sind seltene Tumore, bei denen die zurzeit verfügbaren Zytostatika nur eine geringe Wirkung zeigen. Mit Ecteinascidin, einem Wirkstoff aus der Seescheide, steht nun eine neue effektive Therapieoption zur Verfügung.

„Wir erwarten die Zulassung noch in diesem Jahr“, sagte Axel Immel von PharmaMar anlässlich eines Satelliten-Symposiums auf der Jahrestagung der ADKA. Die europäische Zulassungsbehörde EMEA hatte Ecteinascidin (ET-743) bereits 2001 den Orphan-Drug-Status für die Indikation des fortgeschrittenen Weichteilsarkoms zuerkannt. Das biopharmazeutische Unternehmen PharmaMar, ein Tochterunternehmen der spanischen Zeltia-Gruppe, hat sich auf die Entwicklung von Zytostatika aus Meeresorganismen spezialisiert. Derzeit hat das Unternehmen vier Krebstherapeutika in der klinischen Forschung. Am weitesten fortgeschritten ist ET-743, voraussichtlicher Handelsname Yondelis. Weitere Hoffnungsträger in der klinischen Forschung sind Aplidin, Kahalalide F und ES-285, 15 weitere Substanzen befinden sich in der Pipeline.

„60 bis 70 Prozent aller antitumoralen Wirkstoffe sind natürlichen Ursprungs“, sagte Dr. Hans-Peter Lipp von der Universitätsapotheke Tübingen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts suchten Wissenschaftler hauptsächlich in Pflanzen nach neuen Krebstherapeutika. Die Ozeane blieben als Quelle weitgehend ungenutzt. Einzige Ausnahme: Der Schwamm Cryptothecia crypta, aus dem die Muttersubstanz des Cytarabins stammt. Dabei scheint das Potenzial der ozeanischen Flora und Fauna unermesslich. Wissenschaftler vermuten, dass mindestens 10.000 Algenarten, mehr als 200.000 Tierarten sowie eine unbekannte Zahl an Bakterien und Pilzen in den Weltmeeren vorkommen. Viele Arten - besonders jene, die ortsgebunden sind oder nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Flucht oder des aktiven Widerstandes haben - verfügen über ein beachtliches Repertoire an chemischen Waffen.

Einzigartiger Wirkmechanismus

ET-743 entstammt der karibischen Seescheide Ecteinascisia turbinata. Die Substanz hat einen bisher einzigartigen Wirkmechanismus und scheint der derzeit aktivste Arzneistoff in der Second-Line-Therapie von Patienten mit Weichteilsarkomen zu sein. Die antitumorale Wirkung der neuen Substanz ist multimodal: Sie destabilisiert als Alkylans die Tumor-DNA (mittels kovalenter Bindung an die N2-Positon des Guanins in der kleinen Furche der DNA), verhindert deren Reparatur und hemmt den Zellzyklus. In Folge stirbt die Tumorzelle. Untersuchungen zeigten, dass ET-743 selektiv die Aktivierung des MDR1-Gens (Multiple Drug Resistance) hemmen kann. „Diese Beobachtung ist insofern von Bedeutung, da das korrespondierende P-Glykoprotein maßgeblich an der Resistenzbildung gegen verschiedene Zytostatika beteiligt ist“, erklärte Lipp.

Die Wirksamkeit von ET-743 wurde in drei Phase-II-Studien bei 189 Patienten mit fortgeschrittenen Weichteilsarkomen geprüft, die zuvor die Standard-Therapie mit Anthrazyklinen und Ifosfamid erhalten hatten. Mit ET-743 konnte bei 15 Prozent der Patienten ein partieller Rückgang des Sarkoms erzielt werden und bei weiteren 36 Prozent eine Stabilisierung für im Mittel neun Monate. Am besten sprachen die Patienten mit Leiomyosarkomen und Liposarkomen auf die Behandlung an. Nach einem Jahr lebten noch 48 Prozent der Patienten.

Gut zu handhaben

„Bezüglich der Toxizität ist ET-743 verglichen mit anderen Zytostatika eine Substanz, die sehr gut zu handhaben ist“, sagte Professor Dr. Joachim H. Hartlapp, Klinikum Osnabrück. Sie zeige nur eine mäßige hämatologische Toxizität und auch die nicht hämatologische sei mittels Dosisreduktion gut beherrschbar. So liefen auch Studien mit pädiatrischer Indikation, was für eine hohe Sicherheit und Verträglichkeit spräche.

Die häufigsten unerwünschten Wirkungen der Therapie waren Veränderungen des Blutbildes und reversible Leberschäden. Ein Anstieg der Transaminasen bei etwa 40 Prozent der Patienten sei gut beherrschbar, wenn die Leber vor Therapiebeginn gesund ist und bei Bedarf die Dosis reduziert wird. ET-743 wird derzeit auch zur Behandlung von Patientinnen mit Brust- und Eierstockkrebs geprüft.

 

Was ist ein Weichteilsarkom? Unter Weichteiltumoren versteht man alle vom Weichteilgewebe ausgehenden Tumore. Das Weichteilgewebe umfasst alle nicht-epithelialen Gewebe des Körpers mit Ausnahme des Stützgewebes. Epitheliale Gewebe bedecken die inneren und äußeren Oberflächen des Körpers und sind am Aufbau von Drüsen beteiligt. Zum Weichteilgewebe gehören zum Beispiel Bindegewebe, Fettgewebe, Muskelgewebe oder Nervengewebe. Innerhalb der Weichteiltumoren gibt es die häufigen gutartigen Weichteiltumoren und die sehr seltenen bösartigen Weichteiltumoren (Weichteilsarkome). Die Einteilung der Weichteilsarkome erfolgt nach der Art des Muttergewebes.

 

Muttergewebe Tumor gutartigbösartig (Sarkome) Fettgewebe Lipom Liposarkom Gefäßwände Angiom Angiosarkom Muskelgewebe Leiomyom bzw. Rhabdomyom Leio- bzw. Rhabdomyosarkom Bindegewebe Fibrom Fibrosarkom Bindegewebe der Nerven Neurofibrom Neurofibrosarkom

 

 

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