Pharmazeutische Zeitung online

Spielwiese für noble Forschung

28.06.1999  00:00 Uhr

-PharmazieGovi-Verlag

HIGHLIGHT-KONGRESS

Spielwiese für noble Forschung

von Brigitte M. Gensthaler, Lindau

"What a feeling!" In dem Kultfilm Flashdance war mit diesem Song, den die Bigband bei ihrem Konzert am Vorabend des 3. Highlight-Kongresses anstimmte, sicher ein anderes "feeling" gemeint als der Kontakt mit Spitzenwissenschaftlern. Doch auch der kann begeistern, wie die Teilnemer des Lindauer Kongresses im Vorfeld der Nobelpreisträgertagung erfahren konnten.

Zum dritten Mal luden die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft (DPhG) und die Pharmazeutische Zeitung zum Highlight-Kongreß vom 25. bis 27. Juni ein. Organisator und Moderator Dr. Hartmut Morck war es gelungen, fünf renommierte Wissenschaftler, darunter drei Nobelpreisträger, zum Vortrag zu gewinnen. Ein schwungvolles Konzert der Bigband des Gymnasiums Nieder-Olm, ein geselliger Abend auf dem Bodensee mit dem historischen Dampfschiff Hohentwiel und ein kulturhistorischer Rundgang durch die Altstadt boten zudem viel Gelegenheit für Gespräche mit Kollegen und Forschern, die man nicht alle Tage trifft.

Grundlagen für moderne Arzneistoffe

Ergebnisse der Grundlagenforschung lösen Lawinen von Forschungsaktivitäten aus. Ohne chemische, biologische, molekularbiologische, physikalische Grundlagen und die Ingenieurwissenschaften ist eine effektive und rationale Entwicklung von immer spezifischeren und nebenwirkungsärmeren Arzneistoffen nicht mehr denkbar. Daran erinnerte DPhG-Präsident Professor Dr. Hermann P. T. Ammon bei der Begrüßung der rund hundert Teilnehmer.

Einige Beispiele: Grundlagenforschung im Bereich der Blutdruckregulation schuf ein tieferes Verständnis des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Die praktische Umsetzung liegt in jedem Apotheken-Warenlager: ACE-Hemmer und Antagonisten am Angiotensin-II-Rezeptor als Antihypertonika. Erkennntisse zum Coenzym A als Überträger von C2-Fragmenten und seine Rolle in der Cholesterol-Biosynthese mündeten in die Entwicklung von HMG-CoA-Reduktase-Hemmern. Die Statine sind heute unverzichtbare Lipidsenker.

Forscher stehen unter Druck, Leistungsnachweise zu erbringen und Drittmittel einzuwerben. Ammon regte zum Nachdenken an: "Grundlagenforschung heißt auch, dem Forscher eine Spielwiese zuzugestehen, auf der nicht von vorneherein sicher ist, ob und was dabei herauskommt." Die Freiheit der Forschung zu sichern, ist auch eine politische Aufgabe und eine große Herausforderung, mahnte Karin Wahl, Präsidentin der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg. Ohne grundlegende Forschung, die nicht gewinnorientiert arbeitet, sei kein Fortschritt möglich, ohne Publikation keine Verbreitung der Ergebnisse.

Das "Schwäbische Venedig" bietet einen weiten Horizont über den Bodensee und lädt mit Blick auf die nahen Berge zu Gipfelstürmen ein, erinnerte Dr. Ulrich Krötsch, Vizepräsident der Bayerischen Landesapothekerkammer. Auch der Highlight-Kongreß mache Mut zu solchem Aufbruch zu natur- und geisteswissenschaftlichen Themen mit außergewöhnlichen Referenten.

Mößbauer-Effekt liefert scharfe Spektrallinien

Da er das Forschungsgebiet längst verlassen hat, könne er den Begriff des Mößbauer-Effektes ruhig verwenden: Professor Dr. Rudolf Mößbauer, Nobelpreisträger für Chemie 1961, führte tief in die Welt der theoretischen und experimentellen Physik. Zum Vergnügen der Zuhörer garnierte er seinen Vortrag über die Resonanzspektroskopie der Gammastrahlung mit vielen persönlichen Erinnerungen.

Als Mößbauer-Effekt bezeichnet man die Erscheinung der rückstoßfreien Emission und Absorption von Gammaquanten durch Atomkerne. Von Resonanz spricht man, wenn Emissions- und Absorptionslinie die gleiche Frequenz haben. Gammastrahlen sind hochenergiereiches Licht, wie es von radioaktiven Elementen abgestrahlt wird. Das Grundprinzip der Gamma-Resonanzfluoreszenz ähnele der optischen Resonanz, erklärte der Physiker. Eine radioaktive Quelle sendet Gammaquanten aus, die auf einen Absorber treffen. Das Eintreten der Resonanzabsorption wird von einem Detektor aufgezeichnet.

Die Untersuchung der Resonanzfluoreszenz wurde dem jungen Physiker 1955 erstmals vorgeschlagen. Doch anstatt bei erhöhter Temperatur zu arbeiten, entschied er sich für den Kryostaten. "Sonst hätte ich den Effekt nie gefunden." Mößbauer entdeckte ihn schließlich mit der 129-Kev-Strahlung des 191Iridium-Isotopes - ein Jahr vor seiner Promotion. "Berühmte Entdeckungen werden von jungen Leuten gemacht, die noch nicht so viel wissen und daher mehr probieren und experimentieren", erinnerte sich Mößbauer schmunzelnd an eine wissenschaftliche Arbeit, die damals mathematisch belegte, daß es die von ihm gefundenen scharfen Spektrallinien gar nicht geben könne. Er hatte sie vor seinen Experimenten nicht gelesen.

Bei der Promotion hatte er diese scharfen Spektrallinien zwar gefunden, aber "noch keine Ahnung", wie man sie messen könne. Dies entdeckte er später, was zur Doppler-Effektmessung als zweitem bedeutenden Experiment führte. Der Mößbauer-Effekt wurde zum experimentellen Nachweis zentraler Fragestellungen aus der theoretischen Physik herangezogen, hat aber auch praktische Anwendung gefunden. Standard ist heute das Experiment mit dem Eisen-Isotop 57Fe, das bei Raumtemperatur abläuft.

Kontrolleure für die Proteolyse

Pausenlos sind proteolytische Enzyme am Werk, um andere Proteine zu zerlegen. Warum zerfließen wir dann nicht? "Wir sind voller Inhibitoren", erklärte Professor Dr. Robert Huber, Direktor des Max-Planck-Instituts für Biochemie in München-Martinsried, in seinem Vortrag über proteolytische Enzyme und ihre natürlichen Inhibitoren.

Proteine sind chemisch gesehen recht einfache Polymere. Lange Fäden aus zwanzig verschiedenen Aminosäuren formen sich zu einer schier unendlichen Vielfalt an räumlichen Strukturen. Der Chemie-Nobelpreisträger (1988) wies auf die Grenzen des Wissens hin: "Die Regeln, die zur kompakten Faltung der Proteine führen, kennen wir nicht, obwohl sie in der Aminosäuren-Sequenz niedergelegt sind."

Eine ungeheure Zahl von Enzymen, eingeteilt in acht Klassen, zum Beispiel Metallopeptidasen, alpha-Hydrolasen, Papaine oder Caspasen, spaltet Peptidbindungen. Die Proteolyse ist der wichtigste Regulationsvorgang in der Biologie und unterliegt strengen Kontrollmechanismen. Ein Weg ist die Sekretion inaktiver Proenzyme, die erst durch limitierte Proteolyse aktiviert werden. Nur ein Beispiel: Der Plasminogenaktivator, eine Serinprotease, "zerschneidet" und aktiviert Plasminogen zu Plasmin, das an Fibrin bindet und Blutgerinnsel auflöst.

Ein anderer Regulationsmechanismus verläuft über Inhibitoren, die die proteolytischen Enzyme blockieren. Inibitoren für ein Enzym können durchaus verschieden gebaut sein, nur die Bindedomäne muß passen. Huber, ein international anerkannter Experte für Röntgenstrukturanalysen, verglich dies mit "Schlüsseln, die das gleiche Schloß sperren, aber verschiedene Griffe haben". Die Forscher lernen an diesen Modellen, wie kleine Moleküle beschaffen sein müssen, die ein bestimmtes Enzym hemmen sollen.

Zurück zur Blutgerinnung: Ausgehend von einem Signal der Zellzerstörung läuft eine Kaskade von Proteolyse-Prozessen ab, die letztlich Thrombin aktivieren. Diese Protease kann pro-, aber auch antikoagulatorisch wirken, erklärte Huber. Er hält es für möglich, kleine Moleküle zu synthetisieren, die Thrombin so spezifisch blockieren, daß dessen antikoagulatorische Wirkung nicht behindert wird. Wie hilft die Natur blutsaugenden Tieren? "Der Blutegel, Hirudo medicinalis, ist ein Sack voller Inhibitoren." Natürliche Hemmstoffe wie Hirudin, Rhodniin oder Ornithodorin sind zwar unterschiedlich aufgebaut, decken aber die aktive Stelle im Thrombin ab und verhindern so die Blutgerinnung.

Huber berichtete in Lindau von einem aktuellen Forschungsprojekt an Serinproteasen. Tryptase, die eine Rolle bei der Entstehung von Asthma und Psoriasis spielen soll, bildet Tetramere. Vier Untereinheiten lagern sich so zusammen, daß die aktiven Stellen nach innen weisen und für große Moleküle nicht erreichbar sind. Bislang kennt man keinen endogenen Inhibitor. Ziel der Strukturanalysen ist es nun, einen kleinen synthetischen Hemmstoff zu finden.

Assays mit Tempo

Interdisziplinäre Teamarbeit hieß das Zauberwort bei Dr. Karsten Henco, der eine Suchmaschine zur Entdeckung innovativer Pharmawirkstoffe vorstellte. Henco ist Vorsitzender der Firma Evotec in Hamburg. "Unsere Firma begann mit evolutiver Biotechnologie, daher leitet sich der Name ab." Ihr Ziel: "Wir wollen eine der besten "Drug discovery"-Gesellschaften der Welt und führend in Europa werden."

Die Arzneistoffentwicklung dauert für Henco zu lange. Acht bis zehn Jahre vergehen bis zur Marktzulassung eines neuen Stoffes. Essentiell seien eine Verkürzung des Prozesses auf sechs bis acht Jahre und die Reduktion der Ausfallrate.

"Drug discovery" beginnt mit der Identifikation und Validierung des Zielmoleküls oder der -struktur (Target). Dann folgen Screening-Untersuchungen, die „Hit"-Optimierung und Profilierung der Leitsubstanz ("lead"). Eine Fülle neuer Targets, die validiert werden müssen, kommt aus der Genomforschung. Die Kombinatorische Chemie produziert Moleküle en masse; 10.000 bis 20.000 Stoffe können wöchentlich in den Automaten synthetisiert werden.

Für die optimale Testung möglichst vieler Substanzen setzt die Firma auf "maximale Informationen aus minimierten Volumina". Mit der von ihr entwickelten Suchmaschine Evo-screen® können Proben im Mikroliter-Bereich untersucht werden; spezielle optische Methoden dienen der Betrachtung einzelner Moleküle. Unterschiedliche Fluoreszenzen in den Proben werden erfaßt und ausgewertet. Die Suchmaschinen sollen etwa 100.000 Assays täglich ausführen können, so das Ziel der Entwicklung.

Henco stellte exemplarisch Phosphatase- oder Topoisomerase-Assays vor. Auch Untersuchungen mit lebenden Zellen sind möglich. Zellassays helfen beispielsweise bei der Suche nach Molekülen, die die Sekretion von Interleukinen auslösen. Als Beispiel eines diagnostischen Assays stellte er die Detektion von Amyloid-ß-Proteinkomplexen in Zerebrospinalflüssigkeit vor.

Die Luftchemie verändert sich

Bis vor etwa dreißig Jahren glaubte man, daß Ozon in der Stratosphäre gebildet würde, durch Luftbewegung in die tiefer gelegene Schicht der Troposphäre käme und am Erdboden zerstört werde. "Damals mußte ich nur vier chemische Reaktionen lernen". Der Atmosphären-Chemiker Professor Dr. Paul J. Crutzen, der 1995 den Nobelpreis für Chemie erhielt, erheiterte damit nicht nur seine Nobelpreisträger-Kollegen. Heute weiß man, daß das Ozon (O3) der Troposphäre auch dort gebildet und abgebaut wird - in einer Vielzahl chemischer Reaktionen.

Ozon ist enorm wichtig für das Leben. Es absorbiert das UV-Licht der Sonne, das ansonsten ungefiltert zur Erde durchdringen und das Leben unmöglich machen würde. Bei der Reaktion mit Wasserstoff entstehen Hydroxyl-(OH-)Radikale, die trotz ihrer sehr geringen Konzentration - vier Radikale pro 1014 Luftmoleküle - die Luft sauber halten. Die Reaktionsgeschwindigkeit mit dem Radikal bestimmt die Lebensdauer der meisten Gase in der Atmosphäre, erklärte Crutzen. Methan überdauert acht Jahre, Isopren nur einige Stunden.

Fluorchlorkohlenwasserstoffe, auf deren Konto das Ozonloch geht, reagieren gar nicht mit den Hydroxylradikalen; sie beschleunigen den Abbau von Ozon. Auch an dieser grundlegenden Entdeckung war Crutzen beteiligt. Bis sich das Ozonloch über der Antarktis nach dem FCKW-Verbot wieder auffüllt, werden 40 bis 50 Jahre vergehen, schätzt er. Dafür erwärmen Treibhausgase wie CO2 immer mehr die Stratosphäre.

Insgesamt hat sich die Ozon-Konzentration in der unteren Troposphäre seit 1968 etwa verdoppelt. Stoffe, die zur Bildung von Ozon führen, etwa Kohlenmonoxid, nehmen enorm zu. Nach Modellrechnungen schätzt man heute über Nordamerika, den USA, Europa und Teilen Asiens bis zu 55 Moleküle pro einer Milliarde Luftmoleküle; für die präindustriellen Ära errechnete man Werte zwischen 10 und 15. Auch die Methan-Konzentration steigt seit etwa 200 Jahren rasant an, wie man aus der Analyse von Luftblasen in Gletschern weiß.

Durch das natürliche Ozonloch über den Tropen dringt die UV-Strahlung hier am stärksten zur Erdoberfläche vor. In äquatorialen Gebieten wird denn auch die höchste Konzentration von OH-Radikalen berechnet. Die Ozonmessungen variieren in den Tropen sehr stark, aber es gibt hier zu wenige Meßstationen, beklagte Crutzen. Angesichts der wachsenden Bevölkerungszahl und der Industrie seien Messungen besonders wichtig.

Goethe ging stets aufs Ganze

Nach soviel Naturwissenschaft entführte Professor Dr. Herbert Heckmann, früherer Präsident der Akademie für Wissenschaft und Sprache, die Zuhörer in geistige Welten. Goethe habe es der Nachwelt nicht leicht gemacht. Die Naturwissenschaften verwob er mit der Poesie; alle ihre Zweige verarbeitete er geistig als Bausteine eines einheitlichen Weltbildes. Die Chemie bezeichnete Goethe selbst als seine "heimliche Geliebte". Doch beklagte der Dichterfürst auch, daß seinen naturwissenschaftlichen Ambitionen so wenig Aufmerksamkeit geschenkt werde.

Auch wenn viele naturwissenschaftliche Entdeckungen - "abgesehen von Zwischenkieferknochen" - dem modernen wissenschaftlichen Anspruch nicht standhalten: Ihn zeichnete eine synthetische, keine analytische Betrachtung des Ganzen aus. Salopp formuliert mit Heckmann: "Goethe ging stets aufs Ganze." Statt der heutigen quantitativ orientierten Forschung waren für ihn das Was und Wie in den Naturwissenschaften interessant.

Goethe bezeichnete sich selbst als Dilettant; seine Briefe sind für Heckmann "von bezwingender Heiterkeit". Er sah die Naturwissenschaften nicht verbissen: "Das Interesse muß auch Spaß machen." Top

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