Orientierung schafft Vertrauen |
06.05.2002 00:00 Uhr |
Beratung in der Onkologie
von Brigitte M. Gensthaler, Freiburg
Besonders schwerkranke Menschen suchen Beratung und Orientierung beim Arzt und beim Apotheker. Will der Apotheker seiner Aufgabe gerecht werden, braucht er neben Fachwissen ein hohes Maß an sozialer und ethischer Kompetenz.
"Die erste Anlaufstelle für die Patienten nach dem Arzt muss der Apotheker sein; er ist das letzte Bollwerk vor der Scharlatanerie." Professor Dr. Gerd Nagel, wissenschaftlicher Direktor der Klinik für Tumorbiologie in Freiburg, setzt große Erwartungen in die Apotheker. Aktive Patienten informieren sich über ihre Erkrankung und mögliche Therapien, viele seien jedoch von der Flut der Informationen völlig verwirrt. Apotheker könnten ihnen helfen, sich in dieser schwierigen Lebensphase zu orientieren.
Durch Information wächst Wissen, durch Orientierung Verstehen, das eine Voraussetzung für zielgerichtetes Handeln ist. Möglicherweise wirke sich die erworbene Patientenkompetenz sogar günstig auf die Krankheitsprognose aus, leitete Nagel das Intensivseminar "Beratungskompetenz Onkologie" am 20. und 21. April in Freiburg ein. Eingeladen hatten - neben der Klinik - der Bundesverband der Angestellten in Apotheken (BVA) und die Landesapothekerkammer Baden-Württemberg.
Neue Waffen gegen Tumoren
Moderne Zytostatika sollen selektiver wirken, an neuen Zielstrukturen angreifen, resistente Krebszellen erfassen, eine größere therapeutische Breite aufweisen, peroral bioverfügbar und besser verträglich sein. Ziel ist die komplette oder teilweise Remission des Tumors oder zumindest ein Wachstumsstopp, erläuterte Apotheker Dr. Hans-Peter Lipp von der Universitätsapotheke Tübingen.
Peroral einzunehmende Zytostatika bringen dem Patienten mehr Lebensqualität, da er während der Therapie zu Hause leben kann. Aber sie haben nicht nur Vorteile. Die Kinetik variiert inter- und intraindividuell stärker, die Gefahr von Non-Compliance und Überdosierung ist höher, und letztlich sind die Angehörigen einem größeren Expositionsrisiko ausgesetzt.
Innerhalb eines Jahres wurden die 5-Fluoruracil-Analoga Capecitabin (Xeloda®) und Tegafur (UFT®) zur peroralen Gabe bei Dickdarmkrebs zugelassen. Das Purinanalogon Fludarabin (Fludara® oral) steht Patienten mit chronisch-lymphatischer Leukämie zur Verfügung. Mit Topotecan und Vinorelbin befänden sich zwei aussichtsreiche Kandidaten kurz vor der Zulassung, informierte Lipp. Intensiv geforscht werde an Taxanen, die jedoch bei peroraler Gabe sehr schlecht bioverfügbar sind.
Als neues Antifolat steht Pemetrexed (Alimta®) zur intravenösen Gabe vor der Kliniktür. Da es gleichzeitig an vier Zielenzymen angreift, wird es als "multitargeted antifolate" (MTA) bezeichnet. Wegen starker Nebenwirkungen an der Schleimhaut könnte die begleitende Gabe von Folsäure und Vitamin B12 zwingend nötig sein, sagte Lipp. Als gute Option bei Patienten mit pectanginöser Vorbelastung, die 5-FU nicht vertragen, stufte er Raltitrexed (Tomudex®) ein.
Tirapazamin, ein Nitroxylderivat, wirkt als Radikalbildner im hypoxischen Milieu zytotoxisch. Nachteilig ist seine dosisabhängige Ototoxizität. Es kann Tinnitus und Hörschäden auslösen, berichtete der Klinikapotheker.
Dem Tumor die Blutzufuhr kappen
Neue Optionen bieten Fusionsproteine wie Denileukin Diftitox (Ontak®), das aus humanem Interleukin-2 und einer Peptidsequenz des Diphtherietoxins besteht, sowie monoklonale Antikörper wie Rituximab (Mabthera®), Trastuzumab (Herceptin®) oder Alemtuzumab (Campath®). Viel versprechend sei die Kopplung von Antikörpern mit Radionukliden wie 90-Yttrium oder 131-Iod. Die Antikörper sollen die Strahlungsquelle gezielt zum Tumor transportieren. Durch die Reichweite der Strahlung können dann im Tumorinneren liegende maligne Zellen zerstört werden.
Völlig neue Wege könnten die Angiogenese-Hemmstoffe eröffnen. Gelingt es, die Aufweichung des Gewebes und die Sprossung neuer Gefäße zu verhindern, würde der Tumor relativ früh von der Blutversorgung abgeschnitten und die Bildung von Tochtergeschwülsten verhindert, erklärte Lipp. In Phase III der klinischen Prüfung befinden sich derzeit Thalidomid und der Matrixmetalloproteinase-Hemmstoff Neovastat. Hinter dem wohlklingenden Namen verbirgt sich Haifischknorpelextrakt. Die Substanz wird bei Patienten mit Nierenzellkarzinomen getestet.
Patienten setzen auf Abwehr
Es genügt nicht, den Patienten in der Beratung nur auf die Standardtherapie hinzuweisen, zumal damit nur etwa die Hälfte der neu diagnostizierten Tumoren in eine längere Remission überführt werden kann. Diese Rate werde mit neueren Zytostatika nicht wesentlich besser, schätzt Dr. Marc Azemar von der Freiburger Tumorklinik. Naturheilverfahren wie Hydro-, Thermo-, Bewegungs-, Massage-, Klang-, Phyto- oder Ernährungstherapie "sollten wir daher dem Patienten in der Schulmedizin nicht vorenthalten".
Unkonventionelle Methoden der Krebstherapie (UMK) entsprechen zwar nicht dem schulmedizinischen Standard, aber dennoch erscheinen einige plausibel, sagte der Arzt. Häufig gehören sie zu anderen Heilrichtungen wie Homöopathie, Anthroposophie, Ayurveda oder tibetischer Medizin. Der Apotheker sollte dem Patienten erklären, dass die Mittel aus einem anderen Weltbild stammen. Zu den UMK zählte Azemar ferner Antioxidantien (Vitamine A, C, E), Spurenelemente wie Selen und Zink, pflanzliche Stoffe wie Echinacea und Mistel zur Immunstimulation sowie grüner Tee, proteolytische Enzyme wie Cystein- oder Serin-Proteasen, Lipasen und Katalasen, mikrobiologische Therapien mit bakteriellen Substanzen und schließlich Thymusextrakte beziehungsweise andere tierische Stoffe zur Immunstimulation.
Auch für UMK gibt es Qualitätskriterien: Sie sollten aus dem Arzneischatz der heimischen Naturheilkunde stammen, da Ärzte und Apotheker damit lange Erfahrung (Empirie) gesammelt haben. Die Mittel müssen eine gleichbleibende, nachprüfbare Qualität haben, frei von Schadstoffen, Toxinen und sonstiger Kontamination sein und vom Patienten sicher dosiert werden können. Sie sollen wissenschaftlich überprüfbar, nicht teuer und ohne besondere Weltanschauung verschreibbar und einsetzbar sein.
Dagegen locken Außenseitermethoden mit unbeweisbaren Behauptungen und warten mit nicht standardisierbaren und nicht überprüfbaren Verfahren auf. Oft seien sie an ihrer "autistischen Quelle" erkennbar und stellten die Meinung von Einzelgängern dar. Bewusste Täuschung, Irreführung und finanzielle Ausbeutung kennzeichnen schließlich die Scharlatanerie.
Für mehr Lebensqualität
Bislang gibt es keinen Beweis für eine direkte Antitumorwirkung von Naturheilverfahren und UMK. Eine indirekte Wirkung sei jedoch nicht auszuschließen. Viele Patienten berichten über eine Linderung ihrer Beschwerden oder eine bessere Lebensqualität, weiß Azemar aus Erfahrung.
Vom Apotheker ist Feingefühl verlangt. "Werten Sie nicht pauschal ab und schmettern Sie nicht ab, wenn Patienten über außergewöhnliche Verfahren berichten. Zeigen Sie Kompetenz." Man könne ehrlich sein, ohne den Patienten zu frustrieren. Das bedeutet, negative Aussagen ("das Mittel macht Sie auch nicht mehr gesund") zu vermeiden und vielmehr zu erklären, was man mit einem Mittel noch erreichen könne, zum Beispiel Wohlbefinden und ein besseres Lebensgefühl.
In der Klinik für Tumorbiologie beschränken sich die Ärzte auf wenige Präparate. Azemar zählte beispielhaft Bromelain (ein Gemisch aus Cysteinproteasen), Omega-3-Fettsäuren, Mistelextrakte, modifizierte Citruspektine (in Studien) und Antioxidantien auf.
In die antioxidative Kette muss man vorsichtig und auf breiter Front eingreifen, da beispielsweise Vitamin E bei Monogabe messbar prooxidativ wirkt. Zur Regeneration braucht Tocopherol als Partner Vitamin C. In der Tumorklinik decken die Patienten ihren Tagesbedarf mit einem Cocktail von 2 bis 4 mg Betacaroten, 15 bis 20 mg Vitamin E, 100 bis 150 mg Vitamin C und 1 mg Selen pro Kilogramm Körpergewicht (als Selenomethionin) ab.
Diese Mengen können auch während der Zytostatikatherapie gegeben werden, betonte Azemar. Hoch dosierte Präparate, die beispielsweise in der orthomolekularen Medizin eingesetzt werden, sollte man dagegen während der Strahlen- und Chemotherapie vermeiden. Bei längerer Einnahme sollten 5 bis 10 mg Betacaroten, 400 mg Vitamin E und 1 g Ascorbinsäure nicht überschritten werden. 5 mg Selen pro kg Körpergewicht gelten wegen der engen therapeutischen Breite als Obergrenze. Deutlich preiswerter und ebenfalls antioxidativ wirksam sind Nahrungsmittel: 100 g frischer Apfel haben die antioxidative Wirkung von 1500 mg Vitamin C, obwohl diese Menge nur 5,7 mg des Vitamins enthält.
Abschließend noch ein Tipp vom Experten: den Patienten nicht "zumüllen" mit Präparaten, sondern zwischen Kosten und Nutzen einzelner Produkte abwägen.
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