Phytotherapeutische Tradition nutzen |
07.05.2001 00:00 Uhr |
KLOSTERMEDIZIN
Um das Jahr 795 entstand im südhessischen Kloster Lorsch eine karolingische Handschrift, die als ältestes deutsches Kompendium der Arzneitherapie gilt: das "Lorscher Arzneibuch". Es bietet einen Querschnitt durch die frühmittelalterliche Medizin und Pharmazie und ist von unschätzbarem Wert für die Erforschung der therapeutischen Möglichkeiten einer Zeit, in der pflanzliche Zubereitungen eine dominierende Rolle spielten. Dass sie sich dieser Tradition verpflichtet fühlt, bewies die Stadt Lorsch als Gastgeber des von der Würzburger "Forschergruppe Klostermedizin" organisierten Symposiums "Von der Klostermedizin zur modernen Phytotherapie".
Als "Schnittstelle zwischen Kultur und Natur" errichtete der Heimat- und Kulturverein Lorsch vor kurzem einen Kräutergarten im Schatten der weltberühmten karolingischen Königshalle. Er basiert auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Lorscher Arzneibuch. Die Königshalle gehört zu den 19 deutschen Kulturdenkmälern des UNESCO-Weltkulturerbes.
Die Pflanzungen versinnbildlichen die therapeutischen Möglichkeiten der Phytotherapie, die in ihren Grundzügen den Mönchen im Mittelalter bewusst waren. Bisher sind etwa 130 Pflanzen gepflanzt oder gesät. Eine besondere Fläche wurde der standorttypischen Sandvegetation vorbehalten. Hochbeete, Sitzmauern und großzügige Wege mit Aussicht zum nahe gelegenen Odenwald sollen den kontemplativen Aspekt des Klostergartens erlebbar machen.
Auf eine Gruppierung der Gewächse nach taxonomischen oder therapeutischen Gesichtspunkten verzichtete man bewusst, nicht zuletzt wegen der noch nicht abgeschlossenen Forschungen zur mittelalterlichen Phytotherapie. Besondere Schwierigkeiten bereitet dabei die Identifizierung der in den Quellen beschriebenen Pflanzen. Die Zuordnung zwischen zeitgenössischer Terminologie und botanisch-wissenschaftlichen Nomenklatur beschäftigt Philologen und Naturwissenschaftler gleichermaßen.
Ungeachtet dieser Probleme versucht man soweit möglich, aus traditionellen auf moderne phytotherapeutische Anwendungen zu schließen. Dies gilt für die europäische Überlieferung, die sich für einzelne Drogen und Indikationen von antiken Autoren über die "Klostermedizin", frühneuzeitliche "Kräuterbücher" und pharmakologische Literatur des 19. Jahrhunderts bis zu Monographien der Kommission E durchgängig belegen lässt.
Solche Studien sind auch arzneimittelrechtlich relevant, da die "traditionelle Anwendung" durchaus eine Arzneimittelzulassung begründen kann, wenn andere Wirksamkeitsnachweise fehlen. Die Experten versuchen aber auch im Rahmen der Ethnopharmakologie von den Erfahrungen anderer Kulturvölker zu lernen und deren traditionelle Phytotherapie für eine rationale Arzneistoffentwicklung zu nutzen. Ziel richtig verstandener Ethnopharmakologie ist es auch, die traditionelle Anwendung von Heilpflanzen im Ursprungsland zu erhalten und zu fördern.
Die tradierte Medizin auf eine moderne, wissenschaftliche Basis zu stellen, ist Aufgabe der Forschergruppe Klostermedizin (www.klostermedizin.de), einer Einrichtung des medizinhistorischen Institutes der Universität Würzburg und der Firma GlaxoSmithKline Consumer Health Care (Abtei). Dabei bedient man sich bewusst philologischer und medizinhistorischer Methoden in der Hoffnung, aus historischen Texten Hinweise für die Optimierung heutiger Phytotherapie zu bekommen. Denkbar wäre beispielsweise die (Wieder-) Entdeckung einer neuen oder erweiterten Indikation für bewährte Heilpflanzen oder Hinweise auf die Anwendungssicherheit durch eine kritische Auswertung überlieferter Texte.
Mit dem Lorscher Symposium betrat die Forschergruppe konzeptionelles
Neuland: Führende Pharmaziehistoriker, Medizinhistoriker,
Ethnopharmakologen, Philologen, Theologen und industrielle
Entscheidungsträger beleuchteten das Thema Klostermedizin aus den
verschiedensten Perspektiven, um so dem tradierten Bücherwissen zu
erneuter Anerkennung unter den Vorzeichen modernen Arzneimittelrechts und
heutiger pharmakologischer Kenntnisse zu verhelfen.
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