Schwer ausrottbare Irrtümer |
10.05.1999 00:00 Uhr |
EPILEPSIE
Ein breites Themenspektrum bot die diesjährige Fortbildungwoche im Land Brandenburg vom 22. bis 24. April 1999 in Potsdam. Im Apothekerhaus informierten sich 90 Teilnehmer unter anderem über Epilepsie.
Jeder zwanzigste Bundesbürger leidet einmal im Verlauf seines Lebens an einem epileptischen Anfall, sagte Dr. Walter Christe, Potsdam. Von Epilepsie spreche man dann, wenn sich die Anfälle in der Folge spontan wiederholen. In Deutschland seien 800.000 Personen betroffen. Ein Drittel der Patienten erkranke nach einer meist völlig normalen Entwicklung bis zum Alter von 20 Jahren. Dieses stehe wahrscheinlich mit der Hirnreife in Zusammenhang.
Tonische Verkrampfungen an Arm und Bein
Im Alter von 30 bis 50 habe eine Epilepsie überwiegend andere Ursachen: Tumore, Verletzungen et cetera. Im höheren Lebensalter sei ein erneuter Anstieg von Epilepsien zu verzeichnen. Mikroangiopathien oder Einlagerung von Fibrillen, sprich Umlagerungsprozesse seien die Ursache. Anfälle treten nicht planbar auf. Deshalb sind Aufnahmen zu wissenschaftlichen Zwecken außerordentlich selten, so Christe, der die Dramatik des Geschehens anhand von Videoaufnahmen deutlich machte.
Ein großer epileptischer Anfall dauert in der Regel zwischen ein bis zwei Minuten, zeigte er auf. Er ist gekennzeichnet von Bewußtlosigkeit, tonischen Verkrampfungen der Arme und Beine besonders in der ersten Phase sowie rhythmischen Zuckungen am ganzen Körper. Die Augen des Betroffenen bleiben meist geöffnet. Es kann zu Zungen- oder Lippenverletzungen, Speichelfluß und Einnässen kommen.
Absencen bei Kindern oft fehlinterpretiert
Vor einem epileptischen Anfall, der unter anderem durch Alkohol- oder massiven Schlafentzug provoziert werden kann, ist kein Mensch gefeit. Im Gegensatz zu generalisierten Anfällen, die ihren Beginn in beiden Hirnhälften nehmen, haben fokale Anfälle ihre Ursache in einzelnen, epileptogenen Zonen und machen sich durch Halluzinationen oder visuelle Phänomene beziehungsweise durch Zucken und Verkrampfungen in den jeweils gegenüberliegenden Extremitäten bemerkbar.
Einfach fokale Anfälle werden als besonders quälend erlebt, da das Bewußtsein erhalten bleibt, sagte Christe. Bei Kindern seien Mehrfach-Absencen möglich, die in Unkenntnis der Lage oft als Unaufmerksamkeit interpretiert werden.
Falscher Umgang mit Betroffenen
Christe sprach von schwer "ausrottbaren Irrtümern", die zum falschen Umgang mit den Betroffenen während eines Anfalls führen. Es sei ein Fehler, die Zuckungen aufhalten zu wollen. Dabei könne es zu Zerrungen oder im unglücklichsten Fall zu Sehnenverletzungen und Brüchen kommen. Zweiter großer Fehler sei, den Betroffenen zum Schutz von Zunge und Lippen etwas zwischen die Zähne schieben zu wollen.
So oder so könne der Zungenbiß nicht verhindert werden, da er stets in der allerersten Phase des Anfalls auftritt. Im Gegenteil: Man trage durch dieses Verhalten noch zusätzlich zu oft schwerwiegenden Verletzungen der Betroffenen an Zähnen oder im Mund-Rachenraum bei. Der Zungenbiß selbst hingegen sei in aller Regel harmlos.
Carbamazepin und Valproat als Standardtherapie
Als Medikamente, die eine Epilepsie auslösen können, nannte Christe Theophyllin, Clozapin, Paroxetin, Diphenylpyralin, Mefloquin, Foscarnet, Cyclosporin A und Tacrolimus. Prädiktoren für ein erhöhtes Rückfallrisiko seien strukturelle Auffälligkeiten im CT/MRT (Tumoren, Hirninfarkte, Mißbildungen), ein fokales neurologisches Defizit und epileptiforme Aktivität im EEG.
Der allergrößte Teil der Epilepsie-Therapie sei mit Carbamazepin und Valproinsäure abzudecken. Christe: "Alles andere ist Sache der Spezialisten". Beide Medikamente sind im allgemeinen gut verträglich, doch werden nicht alle Betroffenen anfallsfrei, betonte er. Es bestehe ein hoher Bedarf an zusätzlichen Medikamenten.
Dabei ständen Tiagabin und Vigabatrin in ihrer Bedeutung zur Zeit ganz hinten. Das eine wegen zentralnervöser Nebenwirkungen, letzteres aufgrund von Einengungen des Gesichtsfeldes, unter denen zehn Prozent der Betroffenen leiden. Felbamat habe seinen Stellenwert allenfalls bei der Therapie der Epilepsie im Kindesalter.
Neue Antiepileptika keine Wundermittel
Als zur Zeit wichtigstes Breitbandepileptikum neben Gabapentin nannte der Referent Lamotrigin. Die Gefahr von Hautausschlägen sei groß, daher empfehle sich eine langsame Aufdosierung. An Bedeutung werde in Zukunft auch das stark wirksame Topiramat gewinnen, das ebenfalls langsam aufdosiert werden muß.
Grundsätzlich bleibt festzuhalten, daß die sehr teuren, neuen Antiepileptika
"keine Wundermittel" und den alten hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nicht
überlegen sind, so der Referent. Beim Wechsel auf ein neues Antiepileptikum seien
Standardmedikamente stets auszudosieren. Nach zwei Jahren Anfallsfreiheit könne sich für
den Patienten der Abbruch der Medikation möglicherweise als Chance erweisen.
© 1999 GOVI-Verlag
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