Angiogenesehemmer als Krebsprophylaxe |
19.04.2004 00:00 Uhr |
Die relativ neue Klasse der Angiogenesehemmer verhindert die Neubildung der für den heranwachsenden Tumor lebensnotwendigen Blutgefäße. In Zukunft könnten die Substanzen bei Patienten mit bekanntem Tumorrisiko präventiv eingesetzt werden.
Calcitonin ist ein Beispiel für einen Botenstoff, der sich normalerweise bei Patienten, die an Schilddrüsenkrebs erkranken, bereits ein Jahr oder mehr vor Sichtbarwerden des Tumors im Blut nachweisen lässt. Die Sterblichkeitsrate bei medullärem Schilddrüsenkrebs liegt sehr hoch. “Warum warten wir bei einer Sterblichkeitsrate von 80 Prozent?”, fragte Dr. Judah Folkman, von der Harvard Kinderklinik in Boston, USA, in seinem Vortrag an der New Yorker Akademie der Wissenschaften. “Wir müssen die Patienten behandeln, bevor der Krebs überhaupt erscheint”, forderte er.
Eine Krebsprophylaxe wäre bei einer großen Zahl von Menschen sinnvoll. Denn Ergebnisse von europäischen Autopsiestudien deuten darauf hin, dass ungefähr 39 Prozent aller Frauen zwischen 40 und 50 Jahren bereits „carcinoma in situ“ für Schilddrüsenkrebs aufweisen, eine harmlose Karzinomvorstufe, die in einem aus 100 Fällen zu Krebs entarten kann. Autopsiestudien bei Menschen zwischen 50 und 70 Jahren haben gezeigt, dass fast alle eine harmlose präkanzeröse Form von Schilddrüsenkarzinom in sich tragen. Bei Männern über 50 Jahren liegen ähnliche Zahlen für das Prostatakarzinom vor.
Surrogatmarker dringend gesucht
Nicht für alle Krebsformen existieren so genannte Surrogatmarker (Ersatzmarker) im Blut oder Urin, die einen bestehenden Tumor anzeigen und somit auch auf ein Ansprechen oder Nichtansprechen der Therapie durch Regression oder Wachstum des Tumors hinweisen. Eine der großen Herausforderungen der heutigen Tumorforschung besteht darin, für die verschiedenen Tumoren entsprechende Marker wie etwa Calcitonin zu identifizieren. Sind diese bekannt, kann eine antiangiogene Therapie einsetzen, meinte Folkman. “Metastasiertes medulläres Schilddrüsenkarzinom ist ein Tumortyp, für den man eine präventive antiangiogene Strategie in einer kleinen klinischen Studie testen könnte.”
“Arzneistoffe, die die Angiogenese verhindern, zeigen zunehmend weniger toxische Nebenwirkungen”, so der Mediziner. Verschiedene Angiogeneseinhibitoren wurden entwickelt, die an den Endothelzellen der Gefäßwand wirken und die Neubildung von Tumoren versorgenden Blutgefäßen vor der Tumorentstehung verhindern können. Da die antiangiogene Therapie üblicherweise weniger toxische Nebenwirkungen aufweist und auch nicht so anfällig für eine medikamentöse Resistenzentwicklung ist wie herkömmliche Chemotherapien, bietet sie sich in der Prophylaxe bei Patienten an, die ein hohes Risiko für Krebs aufweisen, sagte der Referent. So zum Beispiel bei Frauen mit einem mutagenen Brustkrebsgen oder bei Krebspatienten nach einer Operation, die ein erhöhtes Risiko für ein Tumorrezidiv haben.
Thalidomid in Australien zugelassen
Ein Beispiel für einen Arzneistoff mit antiangiogener Wirkung ist laut Folkman Thalidomid. Zu Beginn der 60er-Jahre wurde die Substanz weltweit vom Markt genommen, weil sie Feten im Mutterleib schädigte und starke Missbildungen bei Neugeborenen hervorrief. Inzwischen hat das ehemalige Schlafmittel wieder klinische Anwendung gefunden. “Australien ist das erste Land, das der Anwendung Thalidomids bei der Indikation multiples Myelom zugestimmt hat”, sagte Folkman. Eine Studie habe gezeigt, dass der Wirkstoff bei einem Drittel der Patienten mit therapierefraktärer Erkrankung die Tumormasse um 50 Prozent zurückgehen ließ.
Thalidomid ist nach Ansicht von Klinikern heute eines der wirksamsten Medikamente für die Behandlung von multiplem Myelom und wird nun als Medikament erster Wahl erwogen. “Es ist die beste therapeutische Errungenschaft der letzten 25 Jahren”, sagte Gareth Morgan, Vorsitzender des Myeloma Forum Scientific Subcommittee in Großbritannien, einem Bericht des Magazins „Lancet“ zufolge. Der Behandlungserfolg ließ sich nachweisen anhand der Abnahme der Serumwerte an Myelomproteinen und der Urinwerte der Bence-Jones-Proteine, die für das multiple Myelom kennzeichnend sind.
Thalidomid hemmt die Angiogenese, die unter anderem durch die proangiogenen Proteine bFGF (basic fibroblast growth factor) und VEGF (vascular endothelial growth factor) induziert wird. Diese beiden Proteine haben sich als Surrogatmarker für die Wirksamkeit von Thalidomid als nützlich gezeigt. Es besteht aber “ein dringender Bedarf, Surrogatmarker zu finden, die den therapeutischen Nutzen anderer antiangiogener Agentien bestimmen helfen”, sagte Folkman. Ein Marker für die Tumorangiogenese könnten zirkulierende Vorläuferstufen von Endothelzellen (endothelial cell precursors, ECP) sein, so Folkman. Die Anzahl dieser dem Knochenmark entstammenden Endothelzellen ist ein Maß für die Wirksamkeit der Therapie mit Endostatin, einem endogenen Angiogenesehemmer, bei experimentellem Lymphom. Auch nach Thalidomidgabe sank die Zahl der Zellen um das Zehnfache.
Bevacizumab gegen Rektumkarzinom
Die Wirksamkeit des Angiogenesehemmers Bevacizumab, ein Antikörper gegen VEGF, haben Radesh K. Jain und seine Kollegen vom Massachusetts General Hospital an der Harvard University in Boston in einer klinischen Studie der Phase I anhand von sechs Patienten mit fortgeschrittenem, jedoch nicht metastasierendem Rektumkarzinom untersucht. Die in „Nature Medicine“ veröffentlichte Studie zeigte, dass die Zahl der zirkulierenden Endothelzellen im Blut aller Patienten nach drei Tagen antiangiogener Therapie mit Bevacizumab abnahm. „Bei einer Radio- oder Chemotherapie sieht man, dass der Tumor sich verkleinert, und man benötigt keine Surrogatmarker”, erklärte Jain. “Bei einer antiangiogenen Behandlung dagegen braucht man irgendeinen anderen Marker. Es ist nicht einfach, sich Gefäße anzuschauen. Was wir dringend brauchen, ist eine nicht invasive, sehr aussagekräftige Methode, um den Therapieerfolg an den Gefäßen zu messen“, sagte der Mediziner. Die Studie von Jain und Kollegen war die bislang erste Untersuchung beim Menschen, die die Wirksamkeit der antiangiogenen Therapie an den Gefäßen als Studienendpunkt hatte. Bevacizumab ist seit März 2004 in den USA von der FDA zur Behandlung von Krebs zugelassen worden.
Weniger ist mehr
Anstelle der Tumorzellen, Zellen anzugreifen, die das Tumorwachstum unterstützen, ist ein relativ neuer Ansatz in der Krebsbehandlung. „Stabile Endothelzellen sind hier das Ziel”, erklärte Folkman. Endothelzellen sind genetisch stabiler als Tumorzellen und daher weniger anfällig für Mutationen, die eine Resistenz gegen Arzneimittel zur Folge haben können. Daher können bei Angiogenesehemmern die so genannten “Metronomic Dosing”-Schemata angewandt werden. Die Wirkstoffe werden hierbei nicht wie bei der herkömmlichen Chemotherapie in hohen Dosen und relativ langen Abständen gegeben, sondern täglich in niedrigen Dosierungen. In einer tierexperimentellen Studie an Mäusen mit humanen Tumoren hat Professor Dr. Robert Kerbel von der Universität Toronto, Kanada, festgestellt, dass die häufige Gabe von Chemotherapeutika in Dosierungen, die niedriger lagen als die maximal tolerierte Dosis (MTD), einen dauerhaften und potenten antiangiogenen Effekt erreichten. Im Wachstum gehindert wurden wiederum die Endothelzellen der sich neu bildenden Tumorgefäße. Dabei blieben die für die Chemotherapie typischen Nebenwirkungen, die durch Zerstörung anderer Körperzellen zustande kommen, aus. Dies legt nahe, dass die aktivierten Endothelzellen eine selektive Sensitivität aufweisen.
Der Grund hierfür ist noch unklar. In In-vitro-Studien wurden Endothelzellen kontinuierlich mit verschiedenen chemotherapeutischen Substanzen wie Mikrotubuli-Inhibitoren und alkylierenden Agentien behandelt. Alle Wirkstoffe induzierten die Expression des Proteins Thrombospondin 1 (TSP-1), ein potenter und endothelspezifischer Angiogenesehemmer. Diese Ergebnisse implizieren, dass TSP-1 im antiangiogenen Geschehen eine Rolle als sekundärer Mediator spielt. Daher könnten erhöhte TSP-1-Werte im Plasma möglicherweise als Surrogatmarker bei der „Metronomic Dosing“-Chemotherapie dienen.
Verminderung von CEPs
Ein weiterer Effekt der „Metronomic Dosing“-Chemotherapie war, dass weniger zirkulierende Endothelvorläuferzellen aus dem Knochenmark mobilisiert wurden. Dagegen belegten einige Studien, dass die langen Unterbrechungen zwischen den Zyklen mit der maximal tolerierten Dosis den zytostatischen Effekt einiger Chemotherapeutika wie Cyclophosphamid (CTX) vermindert, da der Verlust an aktivierten Endothelzellen in Tumorgefäßen hierbei durch verschiedene Mechanismen umgekehrt wird. Eine Studie zeigte kürzlich, dass eine CTX-Gabe nach dem „Metronomic Dosing“-Schema dauerhaft die Zahl der aus dem Knochmark stammenden zirkulierenden Endothelvorläuferzellen (CEPs) reduziert. Dies behindert die Tumorangiogenese, ähnlich wie auch die endogenen Angiogenesehemmer Endostatin und Angiostatin. Dagegen ging bei MTD-Schemata mit demselben Arzneimittel die Zahl der CEPs nicht zurück. Vielmehr stieg sie sogar nach Ende eines MTD-Therapiezyklus erneut rapide an.
Eine „Metronomic Dosing“-Chemotherapie könnte nach Dr. Timothy Browder von der Harvard Medical School in Boston folgende Vorteile bringen: Zum einen könnte sie die Entwicklung mutationsbedingter Medikamentenresistenzen verzögern. Zum anderen würde sie die Kombination von Zytostatika mit antiangiogenen Arzneimitteln erleichtern und dadurch möglicherweise die Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit solcher chemotherapiebasierten Kombinationen erhöhen. Das Hauptproblem dieser Optimierungstherapie besteht jedoch darin, dass keine verlässlichen Surrogatmarker verfügbar sind. Zudem ist noch unbekannt, wie die antiangiogene Therapie mit anderen Therapieoptionen am besten zu kombinieren ist. Weitere Studien sind nötig, die den Wirkmechanismus der verschiedenen Angiogenesehemmer sowie die Wechselwirkungen von Kombinationen antiangiogener Agentien sowohl untereinander als auch mit traditionellen Krebsmitteln aufdecken.
Neben dem Bedarf an Markern steht einem Einsatz der antiangiogenen Therapie noch eine große Hürde im Weg – die Notwendigkeit für eine Langzeittherapie. So müssen Angiogenesehemmer tierexperimentellen Ergebnissen zufolge wahrscheinlich über mehrere Jahre gegeben werden, um die Tumorbildung bei Patienten zu unterdrücken, sagte Folkman. Die Langzeittherapie stelle bei intravenöser Gabe, die bei den meisten Angiogenesehemmer üblich ist, ein Problem dar. Kürzlich begann eine erste klinische Studie mit einem Endostatin-Präparat mit einer verzögerten Freisetzung, das den Patienten eine bequemere subkutane Gabe zuhause ermöglichen könnte. Fortwährend werden weitere antiangiogene Stoffe entwickelt. “Ein verbessertes Verständnis der Wirkweise dieser Arzneistoffe ist nötig, um zukünftige klinische Studien voranzutreiben, und dieses kann nur durch Kollaboration zwischen Grundlagenforschern und Klinikern geschehen”, schloss Folkman.
Literatur bei der Autorin
Anschrift der Verfasserin:
Dr. Karen Dente
70 Eighth Avenue, Apt. 5
Brooklyn, NY 11217, USA
kmd248@nyu.edu
© 2004 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de