Alkaloid aus Schneeglöckchen hilft bei Alzheimer-Demenz |
19.02.2001 00:00 Uhr |
Gegen eine Demenz gibt es heute und in absehbarer Zeit kein Heilmittel. Die meisten Demenzerkrankungen sind irreversibel und beruhen auf einem fortschreitenden Untergang der Nervenzellen. Dieser Prozess lässt sich bislang auch nicht aufhalten. Die Wirkung von Medikamenten bezieht sich nur auf die Folgen des Nervenzellzerfalls. Kein Wundermittel, aber viel versprechend scheint ein neues Antidementivum zu sein, das im März auf den deutschen Markt kommen soll: Galantamin, ein Alkaloid aus kaukasischen Schneeglöckchen.
Etwa 60 Prozent der Demenzen gehen auf das Konto der Alzheimer-Erkrankung; nur 10 Prozent beruhen auf cerebrovaskulären Veränderungen und ebenfalls 10 Prozent sind Mischformen. Nach Schätzungen leben etwa 800 000 Alzheimerpatienten und insgesamt 1,2 bis 1,4 Millionen demenzkranke Menschen in Deutschland. Nur 5 Prozent von ihnen kommen in den Genuss einer effektiven Therapie. Denn hartnäckige Vorurteile stehen einer frühzeitigen Diagnose und Therapie im Weg, berichtete Professor Dr. Alexander Kurz bei einer Pressekonferenz von Janssen-Cilag in München.
Die Demenz werde als altersbedingt und die Diagnose als schwierig angesehen. Dabei liegt die diagnostische Treffsicherheit bei 80 bis 90 Prozent. Außerdem meinen viele, dass die Patienten ohnehin nicht an ihren Einschränkungen leiden würden. Falsch: Gerade zu Beginn, aber auch in späteren Stadien seien die Patienten tief betroffen, weiß Kurz, der das Alzheimer-Zentrum an der Psychiatrischen Klinik der TU München leitet. Von der Therapie dürfe man aber nicht zu viel erwarten. "Die Stabilisierung der kognitiven Leistungen über ein halbes bis ein Jahr ist ein eindeutiger Behandlungserfolg." Ferner geht es darum, den Verlust von Fähigkeiten hinauszuzögern, die Autonomie des Patienten zu wahren und das Auftreten nicht kognitiver Symptome zu verhindern. All dies entlastet die pflegenden Angehörigen.
Galantamin verstärkt Acetylcholin-Signal
Die Alzheimer-Demenz beruht auf einer abnehmenden cholinergen Neurotransmission, die über den Botenstoff Acetylcholin (ACh) vermittelt wird. Je mehr nikotinische Acetylcholin-Rezeptoren (nAChR) untergehen, umso ausgeprägter wird die Demenz. Vor allem in der Nähe der Amyloid-Plaques verschwinden die Rezeptoren, sagte Professor Dr. Alfred Maelicke, Leiter des Labors für Molekulare Neurobiologie an der Uni Mainz.
Wie lässt sich das nikotinisch/cholinerge Defizit ausgleichen? Nikotin-Agonisten könnten es zwar beheben, aber ihre Wirkung klingt zu schnell ab. Ein anderer Ansatz, nämlich den Abbau des Botenstoffs im synaptischen Spalt zu hemmen, wird mit Inhibitoren der Acetylcholinesterase verfolgt. Im Handel sind zum Beispiel Donepezil (Aricept®) und Rivastigmin (Exelon®). Der neue Stoff Galantamin hemmt ebenfalls die Esterase, wirkt aber zugleich als allosterischer Modulator am nikotinischen ACh-Rezeptor. Das Prinzip ähnelt dem der Benzodiazepine, erklärte Maelicke: Der Arzneistoff greift wie der Botenstoff, aber an anderer Stelle am Rezeptor an und erhöht dessen Empfindlichkeit für den natürlichen Transmitter. Dessen Effekt wird verstärkt.
Durch Angriff an postsynaptischen nAChR wird die Signalübertragung verstärkt, ohne dass eine Überstimulation ausgelöst werden kann. Dockt Galantamin an präsynaptischen Rezeptoren an, kann es die Ausschüttung anderer Botenstoffe ankurbeln. Je nach Neuron werden vermehrt Glutamat, GABA, Serotonin oder Dopamin freigesetzt. Dies ist durchaus erwünscht, da diese Botenstoffe das Lernvermögen ("Plastizität") steigern oder Aggressivität, Ängste oder Depressionen mildern können. Diskutiert wird ferner eine neuroprotektive Wirkung von Galantamin; es soll laut Maelicke einen gewissen Schutz vor der Amyloidtoxizität und neurodegenerativen Prozessen bieten.
Das Wirkprinzip impliziert, dass Galantamin nur wirken kann, wenn noch ausreichend stimulierbare nAChR vorhanden sind, also in möglichst frühen Krankheitsstadien.
Signifikante Erfolge in Studien
Dass dies alles keine graue Theorie ist, wurde in fünf Zulassungsstudien an 3.200 Patienten mit leichter bis mittelgradiger Alzheimer-Demenz nachgewiesen. Die placebokontrollierten Studien liefen über drei bis sechs Monate mit Tagesdosen zwischen 8 und 32 mg Galantamin. Zwei Studien wurden offen als Follow-up über zwölf Monate fortgesetzt, berichtete Privatdozentin Dr. Susanne Schwalen von der Janssen-Cilag GmbH in Neuss.
In den Studien besserte das Verum die kognitiven Fähigkeiten über sechs Monate und stabilisierte sie über zwölf Monate. Stiegen die Patienten unter Placebo nach sechs Monaten auf Galantamin um, konnte der in dieser Zeit erlittene Verlust nicht mehr aufgeholt werden. Bezogen auf die Kognition sprachen 60 bis 68 Prozent der Patienten auf die Therapie an, ergänzte Schwalen in der Diskussion. Die Behandlung stabilisierte ferner die Alltagskompetenz der Patienten über ein Jahr und verzögerte das Auftreten von Verhaltensstörungen. Der klinische Gesamteindruck, der in Interviews mit Pflegepersonen und Angehörigen erhoben wird, blieb unverändert oder wurde sogar besser. Insgesamt mussten die pflegenden Angehörigen weniger Zeit für den Patienten aufwenden.
Dabei ist Galantamin relativ gut verträglich. Am häufigsten dokumentiert wurden gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen oder Diarrhöe, die meist nach ein bis zwei Wochen abklingen. Manchen Patienten vergeht auch der Appetit unter der Therapie; sie nehmen ab. EKG und Laborwerte wurden nicht beeinflusst.
Patienten vitaler und aktiver
Anhand erster Kasuistiken bestätigte Dr. Hans-Jürgen Bosma, Chefarzt der Abteilung Geriatrie am St. Willibrord-Spital in Emmerich-Rees, die günstigen Effekte. Er hat seit Oktober 2000 sieben Patienten in die "Gal-Ger-1-Studie" aufgenommen. In dieser Multicenter-Studie sollen 230 Patienten mit leichter bis mittlerer Demenz ambulant mit Galantamin behandelt werden.
Die besten Effekte sah der Psychiater bei der Patientin mit der kürzesten Krankheitsdauer (ein Jahr), die beiden Nonresponder waren diejenigen, die schon am längsten unter der Demenz litten (fünf und sechs Jahre). Befindlichkeit und Verhalten hatten sich bei allen Patienten positiv entwickelt. Prüfarzt und Angehörige beschrieben die Patienten als vitaler, kooperationsfähiger und "präsenter". Als günstig bewertete der Psychiater den raschen Wirkungseintritt, der die Akzeptanz des Medikaments bei Patient und Angehörigen fördert. Die gastrointestinalen Nebenwirkungen seien zwar teilweise belastend, aber nicht bedrohlich und mit Metoclopramid gut beherrschbar.
Langsam aufdosieren
Die Zulassung der EMEA vom 21. Dezember 2000 bezieht sich auf die Therapie von Alzheimer-Patienten mit 16 und 24 mg Galantamin täglich. Man startet mit 8 mg täglich über vier Wochen und verdoppelt die Dosis dann für weitere vier Wochen. Je nach klinischem Eindruck kann die Tagesdosis auf 24 mg gesteigert werden (jeweils in zwei Tagesgaben aufgeteilt). In der Praxis sollte man möglichst maximal dosieren, da die Effekte dosisabhängig sind, empfahl Kurz.
Reminyl® soll Mitte März auf den deutschen Markt kommen. Dabei wird zunächst Wirkstoff verwendet, der aus dem kaukasischen Schneeglöckchen gewonnen wurde. Im Laufe des Jahres plant das Unternehmen, die Produktion auf synthetisch hergestelltes Alkaloid umzustellen. Nach Firmenangaben soll der Preis vergleichbar sein mit dem der eingeführten Acetylcholinesterase-Inhibitoren.
Die Hölle für die Angehörigen
Der Begriff Demenz bezeichnet keine Krankheit, sondern ein Muster von Symptomen. Die kognitive Leistungsfähigkeit nimmt ab, das heißt Gedächtnis, Denkvermögen, Orientierung, Erkennen von Gegenständen und praktisches Handeln lassen nach. Alltägliche Tätigkeiten wie Körperpflege, Essen und Ankleiden oder Schreiben (Alltagskompetenz) werden zunehmend schwieriger. Antriebsniveau und Sozialverhalten verändern sich; die Patienten verlieren an Aktivität und ziehen sich zurück. Die Persönlichkeit verflacht allmählich.
Begleitet wird dies von so genannten nicht kognitiven Symptomen wie Unruhe, Angst, Depression, Sinnestäuschungen oder Aggressivität. "Das ist die Hölle für die Angehörigen", umreißt Professor Dr. Alexander Kurz das Problem der Pflegepersonen. Häufiges Ziel von Wahn, Aggression oder Wut sind besonders nahestehende Menschen. Sie empfinden Scham, Ratlosigkeit, Besorgnis und Angst meist ausgeprägter als die Patienten selbst, ergänzt Dr. Hans-Jürgen Bosma. Nicht zuletzt tragen die "Gesunden", die nicht die "Gnade des Vergessens" haben, ein hohes psychisches und physisches Morbiditätsrisiko. In der Sprechstunde sei er manchmal nicht sicher, wen er zuerst behandeln oder in die Klinik aufnehmen solle, gibt Bosma zu bedenken: den recht munter wirkenden Demenz-Kranken oder den völlig erschöpften pflegenden Angehörigen.
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