Umweltchemikalien im Fokus der Wissenschaft |
01.12.2003 00:00 Uhr |
Umweltchemikalien können auch in geringster Dosis ein Risiko für Umwelt und Gesundheit darstellen, so der Tenor eines internationalen Expertentreffens in Berlin. Welche Stoffe oder Stoffgruppen die Funktionen des endokrinen Systems verändern und damit die Gesundheit von Lebewesen oder ihren Nachkommen schädigen, wird in der Wissenschaft derzeit heftig diskutiert.
„Es gibt in der Umwelt Chemikalien, die wie Hormone wirken“, sagte Professor Dr. Ibrahim Chahoud vom Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Charité Berlin auf dem „Low Dose Workshop on Endocrine Active Compounds“. Unter dem Begriff „endocrine disrupting chemicals“ (EDCs) werden die zahlreichen hormonähnlichen Substanzen zusammengefasst, die fast überall vorkommen, und in Mengen von bis zu Tausenden Tonnen produziert werden.
Besonders Ungeborene, Neugeborene, Kleinkinder und Kinder in der Pubertät sind gefährdet, da die Entwicklung durch Hormone kontrolliert wird. Voraussetzung für Schäden ist, dass die EDCs innerhalb eines bestimmten Zeitfensters und in einer bestimmten Menge vorhanden sind. Während in frühen Lebensabschnitten Substanzen auch in sehr geringen Konzentrationen wirken können, treten in anderen Lebensphasen keine oder völlig andere Wirkungen auf. „Wenn bei einem Ungeborenen etwas falsch programmiert wird, bleibt der Schaden ein Leben lang“, betonte Chahoud.
International diskutiert wird daher, ob die Exposition mit EDCs im Fetalstadium sowie nach der Geburt zu Krankheiten wie Brust-, Hoden- und Prostatakrebs führen. Auch die verfrühte Pubertät bei Mädchen oder die vielfach in Industrienationen wie Deutschland oder Schweden zu beobachtende verringerte Spermienzahl bei Männern, die zu verringerter Zeugungsfähigkeit führt, stehen unter dem Verdacht, durch Umweltchemikalien ausgelöst zu werden. Ob polychlorierte Biphenyle (PCB) die geistige Entwicklung von Kindern beeinflussen wird ebenso geprüft wie die Beeinträchtigung der sexuellen Entwicklung durch Bisphenol A.
Solche ursächlichen Zusammenhänge konnten im Tierexperiment bereits nachvollzogen werden. Als erschreckendes Beispiel aus der klinischen Praxis gilt der estrogenähnliche Stoff Diethylstilbestrol (DES). Er wurde jahrzehntelang, bis in die siebziger Jahre hinein, Schwangeren gegeben, weil man meinte, damit Fehlgeburten verhindern zu können. Als Erwachsene entwickelten die Töchter dieser Frauen übermäßig häufig Tumorarten wie Vaginal- und Gebärmutterhalskrebs. Die Söhne der Frauen, die DES erhielten, zeigten Anomalien der Geschlechtsorgane.
In Schweden und Dänemark gaben epidemiologische Studien Hinweise darauf, dass das Auftreten von Hodenkrebs bei jungen Männern nicht durch die aktuelle Exposition chemischer Substanzen bedingt ist, sondern vielmehr mit der ehemaligen Belastung der Mütter korreliert. In den USA wurden bei Frauen, deren Söhne an Hodenkrebs erkrankten, unter anderem erhöhte Konzentrationen an polychlorierten Biphenylen, Hexachlorbenzenen und Chlordan festgestellt.
Höchstwerte als Kompromiss
„Gerichtlich verwertbare Beweise sind selten, die belegen, dass ein Stoff schädlich wirkt und daher eine Behörde eingreifen muss“, sagte Dr. Andreas Gies vom Umweltbundesamt in Berlin. Doch das Vorsorgeprinzip ist inzwischen Bestandteil deutschen und europäischen Handelns geworden und zwar besonders in den Situationen, in denen es eine erhöhte Unsicherheit gibt und dies unabhängig davon, ob Grenzwerte erreicht sind oder nicht. Hierzu gehört etwa das Verbot von Flammschutzmitteln oder das Verbot von Phtalaten in Babyschnullern und Beißringen.
Eine wichtige Kenngröße bei der Bewertung und Risikoabschätzung von Chemikalien stellt der NOAEL (No Observed Adverse Effect Level) dar. So wird aus dem NOAEL unter Einbeziehung eines Sicherheitsfaktors der ADI (acceptable daily intake for humans) abgeleitet. Der ADI beschreibt die Höchstmenge eines Stoffes in mg/kg Körpergewicht und Tag, dessen lebenslange Aufnahme gesundheitlich unbedenklich bleibt. Auch die beim Vollzug des Umweltrechts unentbehrlichen Grenz- und Richtwerte beruhen auf dem NOAEL. Beim Festlegen der Werte werden dabei teils auch Machbarkeit und Ökonomie mit berücksichtigt. Grenz- und Richtwerte bleiben so häufig Teil eines Kompromisses.
Zur Risikobewertung wird die Wirkung einer Substanz auf den Menschen, etwa bei Hautkontakt, getestet. Außerdem stehen die möglichen Emissionspfade auf dem Prüfstand. So gibt es stoffspezifische Grenz- und Richtwerte für Böden in landwirtschaftlicher Nutzung, für Kinderspielplätze oder für Trinkwasser. In der Regel wird der NOAEL aus der Dosis-Wirkungs-Kurve abgeleitet unter der Annahme, dass diese Beziehung linear ist. Alle nationalen wie internationalen Richtlinien für die Risikoabschätzung von Gefahrstoffen basieren hierauf ebenso wie auf der Voraussetzung, dass eine NOAEL-Dosis existiert. „Dies ignoriert die Tatsache, dass verschiedene Verläufe der Dosis-Wirkungs-Beziehung möglich sind und ebenso andere Wirkungen unterhalb der NOAEL-Dosis auftreten können“, sagte Chahoud.
So zeigte sich sowohl bei Estrogenen, als auch bei den hormonähnlichen EDCs, dass die Rezeptor-Besetzung nur dann proportional zur Hormon- oder EDC-Konzentration ist, wenn weniger als 10 Prozent der Rezeptoren besetzt sind. Insbesondere ab einer Rezeptor-Besetzung von 50 Prozent, was dem KD-Wert nach dem Massenwirkungsgesetz entspricht, gibt es keine Linearität zwischen der Hormon- oder EDC-Konzentration und der Besetzung des Rezeptors. Gleiches gilt auch für die Rezeptor-Besetzung und die Wirkung.
Das Ableiten von Ergebnissen aus Studien, bei denen nur mit hohen Dosierungen gearbeitet wird, kann daher zu dramatischen Fehleinschätzungen führen. Dies gilt vor allem für Stoffe, die nicht direkt Organe schädigen, sondern früh im Leben in die Entwicklung des gesamten Organismus eingreifen. Da diese Stoffe nur in sehr kurzen Phasen des Lebens wirksam sind, in geringsten Mengen wirken und gewissermaßen auch in Konkurrenz zu den körpereigenen Hormonen stehen, ist ihre Bewertung besonders problematisch.
Über 200 Stoffe stehen heute im Verdacht, zu den Umwelthormonen zu gehören. „Für sie steht eine Neubewertung an“, sagte Gies. Doch das geltende europäische Chemikalienrecht ist träge und langsam. „Bis wir einen Test haben, der regulatorisch verwendet werden kann, vergehen fünf Jahre. Für die anschließende Bewertung benötigen wir ebenfalls fünf Jahre. Und von der Bewertung bis zum Verbot einer Substanz brauchen wir in Deutschland derzeit etwa zehn Jahre“, so Gies.
Zur Einführung einer neuen EU-Gesetzgebung hat die europäische Kommission vor wenigen Wochen einen Vorschlag vorgelegt. Demnach müssen Substanzen, die im Verdacht stehen, Umwelthormone freizusetzen, registriert, auf ihre Wirkung getestet und amtlich zugelassen werden. Sie erhalten die Erlaubnis zur Vermarktung, wenn ihre Unschädlichkeit durch den Produzenten nachgewiesen ist. Daraus kann sich auch eine Beschränkung auf spezifische Einsatzzwecke ergeben. „Frühestens in zwei Jahren wird dieses neue Gesetz in Kraft treten“, schätzt Gies. Elf Jahre dauert es dann, bis alle Stoffe geprüft worden sind.
Seit 1999 beschäftigt sich die Europäische Kommission mit dem Problem der EDCs. So gibt es inzwischen auch eine eigene Website mit ausführlichen Informationen: europa.eu.int/comm/environment/endocrine. Umfassend ist die Forschungsförderung. Seit März 2003 sind in dem Forschungsverbund CREDO vier Projekte mit über 60 europäischen Forschungslaboren und einem Budget von mehr als 20 Millionen Euro zusammengefasst.
„Welche Krankheiten mit den Umwelthormonen in Zusammenhang stehen ist eine der zentralen Fragen für die National Childrens Study in den USA“, sagte Dr. Ellen Silbergeld von der Johns Hopkins University, Baltmore, und gleichzeitig Beraterin bei der amerikanischen Umweltbehörde EPA (U.S. Environmental Protection Agency). Um einem repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung zu erhalten, sollen dabei über 100.000 Kinder an der Studie teilnehmen. Von der Zeugung über die Kindheit bis zu einem Alter von 21 Jahren werden sie untersucht. Beobachten wollen die Forscher dabei psychologische, soziale, ökonomische und ernährungsbedingte Risiken, aber auch genetische Komponenten und Umweltfaktoren.
Ziel der Studie ist es, vor allem die Risiken zu verstehen, die mit den
hauptsächlichen Gesundheitsproblemen zusammenhängen. Hierzu gehören eine
niedrige Geburtenrate, die Rate der Frühgeburten, Asthma, Allergie,
Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck, Verhaltensstörungen und
Lernschwächen bei Kindern. Erste Zwischenergebnisse werden 2008 erwartet.
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