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Videos sollen Rehabilitation beschleunigen

21.04.2003  00:00 Uhr
Schlaganfall

Videos sollen Rehabilitation beschleunigen

PZ  Schlaganfallpatienten mit Lähmungen der Extremitäten lernen verloren gegangene Bewegungsmuster offensichtlich schneller wieder, wenn sie die Bewegungsabläufe gesunder Menschen beobachten. Das meldet das Universitätsklinikum Lübeck und stützt sich auf erste Ergebnisse eines Teams italienischer und deutscher Neurologen. Kern der Rehabilitationsstrategie ist ein Videoverfahren, das jetzt in einer Studie getestet wird.

Verantwortlich für das Lernen durch Beobachten sind wahrscheinlich spezialisierte Nervenzellen, die so genannten Spiegelneurone. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren ergaben, dass die Zellen bereits bei der optischen oder akustischen Wahrnehmung von Bewegungen eines anderen Menschen aktiv werden. Dadurch werden im Nervensystem Bewegungsmuster abgespeichert. Dank dieser neurologischen Lernprozesse können offenbar durch den Schlaganfall eingebüßte Funktionen wieder aktiviert werden.

Ein Team um Privatdozent Dr. Ferdinand Binkofski aus der Lübecker Universitätsklinik für Neurologie will nun zusammen mit Dr. Giovanni Buccino aus dem italienischen Parma bei Schlaganfallpatienten eine videogestützte Methode erproben. Dabei werden den Patienten verschiedene Bewegungsabläufe regelmäßig vorgeführt. Diese Untersuchungen haben zunächst experimentellen Charakter. Bestätigen sich die ersten, viel versprechenden Ergebnisse, soll das Verfahren mit Hilfe größerer Patientengruppen erprobt werden.

Erste Hinweise bei Affen

Spiegelneurone wurden vor einigen Jahren von den Professoren Vittorio Gallese und Giacomo Rizzolatti aus Parma mehr oder minder zufällig entdeckt. Bei Hirnuntersuchungen mit Makakken stellten sie fest, dass einige Nervenzellen im Stirnhirn nicht nur dann in Erregung gerieten, wenn sie eine bestimmte eigene Tätigkeit ausführten. Die gleichen Nervenzellen waren auch aktiv, wenn die Affen den Versuchsleiter bei der Ausführung der gleichen Tätigkeiten beobachteten. So feuerten diese Zellen sowohl wenn der Affe nach einer Erdnuss griff, als auch wenn der Versuchsleiter eine Greifbewegung nach der Nuss ausführte.

Die funktionelle Bildgebung weist auch beim Menschen auf die Existenz von Spiegelneuronen hin. Die ersten Hinweise auf die Existenz solcher Zellen beim Menschen fanden sich im so genannten Broca-Zentrum (Sprechzentrum im Hirn, das auch für die Gestik verantwortlich zeichnet); inzwischen wird diese besondere Art von Nervenzellen an verschiedenen Stellen vermutet. „Wir gehen mittlerweile von einem komplexen Spiegelneuronensystem aus, das sich im menschlichen Gehirn befindet“, erklärt Dr. Binkofski.

Zwar sind Bedeutung und Funktion der Spiegelneurone noch nicht eindeutig geklärt, doch wissen die Forscher, dass diese Zellen wesentlich komplexer arbeiten als jene, die ausschließlich fürs Sehen oder Hören zuständig sind. Spiegelneurone steuern Wahrnehmung und Ausführung von Bewegungen; sie verknüpfen ganz offensichtlich Beobachtungen oder Geräusche mit den eigentlichen Aktionen. Sie spielen eine große Rolle beim Verstehen – und damit auch beim Erlernen – von Bewegungsabläufen.

Lernen von Bewegungen

Spiegelneurone werden früh aktiv: Kleinkinder imitieren oft Mimik und Gestik ihres Gegenübers. Blinzeln, Grimassen schneiden, Zunge herausstrecken - das Gesicht von Vater oder Mutter ist wie ein Spiegel für die Verhaltensweise des Kindes. Dieses System, das die Forscher Resonanzverhalten nennen und das auf der Aktivierung von Nervenzellen beruht, ist bei jedem Menschen verankert: Kratzt der Chef sich während einer Besprechung am Kopf oder verschränkt die Arme, führen einige Angestellte die gleiche Bewegung wenig später ebenfalls aus. „Dies geschieht natürlich unbewusst und wird von jedem unterdrückt, sobald er es bemerkt. Aber grundsätzlich kennen wir alle dieses Resonanzverhalten – warum sonst wirken etwa Gähnen oder Lachen so ansteckend?“, sagt Dr. Binkofski.

Auch beim Erlernen von Fertigkeiten sind die Spiegelneurone wahrscheinlich von großer Bedeutung: So steigen manche Kinder aufs Rad und fahren los, ohne es jemals geübt zu haben. Sie haben ihren Altersgenossen ganz einfach nur zugesehen und dabei mental gelernt, wie man Rad fährt. Diese Funktion bleibt auch im Erwachsenenalter erhalten: Golfspieler etwa stellen sich ihren nächsten Schlag intensiv vor. Auch das hilft, motorische Fähigkeiten zu erlangen beziehungsweise zu verbessern.

Untersucht wird die neuronale Aktivität vor allem mit modernen bildgebenden Verfahren. Von herausragender Bedeutung ist hier die funktionelle Kernspintomographie (fMRT). Bewegungen, Gedanken und Vorstellung steigern die Hirnaktivität und damit auch den Stoffwechsel. Mit der fMRT kann dies dreidimensional exakt dargestellt werden. In Kombination mit elektrischen Ableitungsverfahren wie dem Elektroenzephalogramm (EEG) oder Stimulationsmethoden wie der transkraniellen Magnetstimulation lassen sich Ort und Zeit der Aktivität von Spiegelneuronen genau bestimmen.

So ist es den Lübecker Wissenschaftlern inzwischen gelungen, nachzuweisen, dass unterschiedliche Hirnareale aktiviert werden, wenn ein Gegenüber entweder Bein, Arm oder Mund bewegt. „Auch haben wir festgestellt, dass die neuronale Aktivität in bestimmten Hirnarealen des Probanden stärker ausgeprägt ist, wenn der Beobachtete nach einem konkreten Gegenstand, etwa einem Stift, greift, als wenn er ins Leere fasst“, erläutert der Neurowissenschaftler. Dies sei ein deutliches Indiz, dass Spiegelneurone nicht nur Visuelles erfassen, sondern gleichzeitig auch in den Analyseprozess im Hirn eingebunden sind, so Binkofski.

Videoverfahren im Test

Welche Konsequenzen die neue Forschungsergebnisse für Opfer von Schlaganfällen haben und ob sich daraus neue Therapieoptionen ergeben, muss jetzt intensiver geprüft werden. In wenigen Wochen soll eine Untersuchung mit 50 Patienten beginnen. Ihnen werden regelmäßig spezielle Videos gezeigt, auf denen Bewegungsübungen wie „Arm heben“ oder „Bein strecken“ zu sehen sind. Binkofski: „Wir hoffen, dass durch wiederholtes Sehen der Bewegungen gespeicherte Muster abgerufen und schon verloren geglaubte Bewegungsabläufe wieder aktiviert werden.“ Bei ersten Patienten, denen die Videosequenzen vorgespielt wurden, hat sich diese Hoffnung bewahrheitet: Allein durchs Beobachten – und den daraus resultierenden neuronalen Aktivitäten – konnte der Erfolg der Rehabilitation in kürzerer Zeit erreicht werden.

Zu große Erwartungen dürfe man in das experimentelle Verfahren jedoch noch nicht setzen, schränkte Dr. Binkofski ein; erst müssten weitere Studien entsprechende Ergebnisse bringen und bestätigen. Auch sei die Methode für Patienten mit stark geschädigten Nervenbahnen kaum geeignet, frühere Bewegungsmuster wieder zu erlernen. Für Patienten mit weniger stark ausgeprägten Schlaganfällen könnte sich aus dem Verfahren jedoch eine weitere Therapieoption entwickeln, hofft der Neurologe. Top

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