Pharmazeutische Zeitung online

Katastrophale Kettenreaktion

15.09.2003  00:00 Uhr
Sepsis

Katastrophale Kettenreaktion

von Elke Wolf, Weimar

»Horror autotoxicus« nannte Paul Ehrlich die Sepsis, da er wusste, wie machtlos Ärzte der Erkrankung oft gegenüberstehen. Die Sepsis hat indes auch heute noch nichts von ihrem Schrecken verloren. Nach wie vor ist sie Todesursache Nummer eins auf Deutschlands nicht-kardiologischen Intensivstationen.

Erschreckende Zahlen präsentierte Professor Dr. Konrad Reinhart auf der Pressekonferenz anlässlich des 1. Internationalen Sepsis-Kongresses vergangene Woche in Weimar. Die Sepsis kommt ähnlich häufig vor wie Herzinfarkt, führt aber viel häufiger zum Tode. Von rund 150.000 Menschen, die in Deutschland jährlich an Sepsis erkranken, sterben 80.000, informierte Reinhart, Vorsitzender der Deutschen Sepsis-Gesellschaft und Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie der Universität Jena. Die Patienten sterben, weil innere Organe versagen. Ein Vergleich mit anderen Krankheiten führt vor Augen, dass die Sepsis keinesfalls eine Infektion mit Seltenheitswert ist. Im Gegenteil: 300 von 100.000 Bürgern in den USA erkranken an einer Sepsis, 110 von 100.000 an Brustkrebs, 50 von 100.000 an Darmkrebs und 17 von 100.000 an Aids.

Die Sepsis ist nur selten der »rote Streifen am Arm, der zum Herzen zieht«. Sie ist vielmehr die aggressivste Form einer Infektion, hervorgerufen durch Mikroorganismen und deren Toxine, die innerhalb weniger Stunden zum Versagen der inneren Organe führen kann. »Die Sepsis kann als Komplikation jeder Infektionskrankheit auftreten«, betonte Reinhart, also auch bei einer Lungen- oder Mandelentzündung sowie bei Malaria. Dennoch ist sie weder im Bewusstsein von Patienten noch von Ärzten präsent, so Reinhart.

Wenn es dem Körper nicht gelingt, die eigentliche Infektion auf den Ursprungsort zu begrenzen, gelangen kontinuierlich pathogene Mikroorganismen und deren Toxine in die Blutbahn und lösen eine Entzündung in allen Organen des Körpers aus, vergleichbar einer »außer Kontrolle geratenen Kettenreaktion bei einer Kernreaktorkatastrophe«. Das Immunsystem wird gestört – es setzt gleichzeitig pro- und antiinflammatorische Mediatoren frei. In der Folge gerät die Homöostase und Blutgerinnung aus dem Gleichgewicht. Der Organismus wehrt sich gegen Blutverluste und kurbelt die Produktion des von Gewebethromboplastin (Tissue Factor) an. Die Plasmaspiegel von Fibrinogen steigen. Parallel wird die Fibrinolyse durch verstärkte Aktivierung von PAI-1 (Plasminogen-Aktivator-Inhibitor 1) gehemmt.

Der massive Einstrom verschiedener Faktoren führt zu einem Ungleichgewicht zwischen gerinnungsfördernden und -hemmenden Substanzen. Bei einer akuten Sepsis treten daher sowohl Blutungen als auch thrombotische Gefäßverschlüsse auf. Innerhalb weniger Stunden sind alle lebenswichtigen Organe entzündet und drohen auf Grund der Minderdurchblutung zu versagen. Schließlich richten sich die Abwehrmaßnahmen des Immunsystems gegen den eigenen Körper.

Symptome wenig spezifisch

In dieser Situation besteht ohne sofortige intensivmedizinische Behandlung keine Überlebenschance. Die Letalitätsrate steigt rapide mit der Anzahl der ausgefallenen Organe. Reinhart: »Als erstes trifft es häufig das Gehirn.« Etwa 20 bis 40 Prozent dieser Patienten sterben trotz Antibiotikatherapie und Behandlung auf der Intensivstation – bei einem Versagen von mehr als drei Organen sogar bis zu 80 Prozent. Für das Überleben des Patienten ist eine möglichst frühe Diagnose und Therapie daher entscheidend. Hierin liege aber das Problem: Symptome der Sepsis, die beispielsweise auf eine verminderte Versorgung der Organe mit Sauerstoff zurückzuführen sind, wie Verwirrtheit, Fieber, Schüttelfrost, beschleunigte Atmung und Herzschlag sowie erniedrigter Blutdruck, sind wenig spezifisch. Auch Fieber auf Grund einer Bakteriämie ist wenig aussagekräftig.

So setzt sich die Diagnose puzzleartig aus einer ganzen Reihe von Laborwerten zusammen, wobei nicht alle Werte bei jedem Patienten auffällig sein müssen. Reinhart hofft, dass sich bald im Stationsalltag immunologische Marker etablieren werden, die derzeit in Studien erprobt werden und eine frühere Diagnose als nach klinischen Kriterien ermöglichen. Durch verschiedene Sofortmaßnahmen lässt sich das Risiko für eine Sepsis zwar minimieren, grundsätzlich verhindern lässt sie sich aber nicht: So sollte wenn möglich der infektiöse Herd wie eine infizierte Gallenblase entfernt werden. Der Erreger ist rasch zu identifizieren, passende Antibiotika sind frühzeitig zu verabreichen. Der erhöhte Blutzuckerspiegel sollte mit einer intensivierten Insulintherapie gesenkt werden, führte Reinhart aus.

Enorme Ausgaben

Bei den vielschichtigen Auswirkungen der Sepsis ist es kaum verwunderlich, dass die Behandlung enorme Kosten erzeugt. In Deutschland werden allein die direkten Therapiekosten auf bis zu 2,45 Milliarden Euro geschätzt, was etwa 45 Prozent der Gesamtkosten für Intensivtherapie ausmacht. Sepsispatienten liegen in Deutschland durchschnittlich 16 Tage auf der Intensivstation und werden rund 32 Tage im Krankenhaus behandelt, stellte Reinhart die aktuelle Datenlage vor. Nach einer Studie der Universitätskliniken Jena und Göttingen betrugen die Krankenhauskosten von Patienten mit Sepsis jeweils rund 25.695 Euro – 1454 Euro pro Tag.

Die Anzahl der Sepsisfälle wird in Zukunft noch steigen, da es immer mehr ältere Menschen mit altersbedingten Vorerkrankungen gibt, die laut Reinhart besonders anfällig für eine Blutvergiftung sind. In den USA hat sich zum Beispiel die Sepsishäufigkeit in den vergangenen 20 Jahren verfünffacht. Aber auch viele junge und bislang gesunde Menschen können an einer Sepsis erkranken und sterben. Die häufigste Ursache hierfür ist eine Lungenentzündung (44 Prozent), Bakterien im Blut (17,3 Prozent) oder Infektionen der Harnwege und Geschlechtsorgane (9,1 Prozent). Moderne medizinische Technologien und Operationen, ohne die ein Überleben bei bestimmten Erkrankungen bis vor wenigen Jahren unmöglich war, treiben ebenfalls das generelle Sepsisrisiko in die Höhe. Antibiotikaresistenzen spielen hingegen – zumindest in Deutschland – derzeit nur eine untergeordnete Rolle.

Werde die Sepsis schon von der medizinischen Fachwelt nur unzureichend wahrgenommen, so sei sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht vorhanden, bedauerte der Vorsitzende der Sepsis-Gesellschaft. In Medien wie Spiegel, Focus oder FAZ werden Krankheiten wie Krebs, Herzinfarkt oder Aids um den Faktor Hundert häufiger zitiert als Sepsis, haben eigene Untersuchungen ergeben. »Dahinter steckt eine andere Lobby. Auch die forschende Pharmaindustrie steckt ihre Gelder eher in andere Gebiete.« Der Begriff Sepsis wird sowohl umgangssprachlich als auch in den Medien so gut wie gar nicht verwendet. Da heißt es eher »an Lungenentzündung verstorben«; die korrekte Wortwahl wäre allerdings »an einer Sepsis infolge einer Lungenentzündung verstorben«. Reinhart: »An einer Lungenentzündung stirbt man im Allgemeinen nicht.«

Nicht immer optimal therapiert

Die Deutsche Sepsis-Gesellschaft hat sich zum Ziel gesetzt, die Zahl der Sepsistoten in den nächsten fünf Jahren um 25 Prozent zu senken. Reinhart hält diese Vorgabe für realistisch, »wenn wir intensive Aufklärung betreiben und es schaffen, dass der aktuelle Stand der Forschung konsequent in die Praxis umgesetzt wird«. In der Sepsistherapie hätten sich in der letzten Zeit viele Fortschritte ergeben. Die Erkenntnisse aus den Studien sind bisher jedoch noch nicht ausreichend in den klinischen Alltag umgesetzt worden, weil die neuen Therapien zum Teil nicht für jeden Patienten geeignet und oft mit zusätzlichen Kosten verbunden sind. Sind die finanziellen Möglichkeiten jetzt schon begrenzt, verschärfe sich die Lage noch durch das geplante Gesundheitsmodernisierungsgesetz, so Professor Dr. Hilmar Burchardi von der Universität Göttingen. Er sieht erhebliche Behandlungsdefizite auf die Patienten zukommen.

Die moderne Intensivtherapie der Sepsis besteht unter anderem in einer frühzeitigen künstlichen Beatmung und Schockbehandlung, in Nierenersatzverfahren, künstlicher Ernährung und der Substitution von körpereigenen Blutzellen und -stoffen. Aber auch die eigentliche Arzneistofftherapie ist nach Jahren der Stagnation seit kurzem in Bewegung gekommen. So senkt niedrig dosiertes Hydrocortison bei Patienten mit einem nachgewiesenen Sepsis-bedingten Mangel an diesem Hormon die Sterblichkeit von 65 auf 50 Prozent.

Ein neuer Wirkstoff zur Behandlung der Sepsis ist Drotrecogin alfa (zum Beispiel Xigris®). Mit diesem rekombinanten humanen aktivierten Protein C steht erstmals ein zielgerichtetes Arzneimittel zur Behandlung der Sepsis zur Verfügung. Bei erwachsenen Patienten mit schwerer Sepsis und multiplem Organversagen ist der Wirkstoff zusätzlich zur Standardtherapie indiziert. Das körpereigene Protein überzeugt durch seinen dreifachen Wirkmechanismus. Es wirkt antithrombotisch, indem es die Faktoren Va und VIIIa blockiert. Über die Hemmung von PAI-1 fördert es die Fibrinolyse. Zudem unterdrückt es die Freisetzung der entzündungsfördernden Zytokine Interleukin-1 und Tumornekrosefaktor-a. Nach den Ausführungen Reinharts hat aktiviertes Protein C seine Wirksamkeit in Studien bewiesen. Die Letalitätsrate sank von fast 31 Prozent auf 24,7 Prozent. Der Wirkstoff eigne sich für etwa 20 Prozent der Patienten. Top

© 2003 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de

Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
 
FAQ
SENDEN
Wie kann man die CAR-T-Zelltherapie einfach erklären?
Warum gibt es keinen Impfstoff gegen HIV?
Was hat der BGH im Fall von AvP entschieden?
GESAMTER ZEITRAUM
3 JAHRE
1 JAHR
SENDEN
IHRE FRAGE WIRD BEARBEITET ...
UNSERE ANTWORT
QUELLEN
22.01.2023 – Fehlende Evidenz?
LAV Niedersachsen sieht Verbesserungsbedarf
» ... Frag die KI ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln. ... «
Ihr Feedback
War diese Antwort für Sie hilfreich?
 
 
FEEDBACK SENDEN
FAQ
Was ist »Frag die KI«?
»Frag die KI« ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums versehen, in denen mehr Informationen zu finden sind. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung verfolgt in ihren Artikeln das Ziel, kompetent, seriös, umfassend und zeitnah über berufspolitische und gesundheitspolitische Entwicklungen, relevante Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung sowie den aktuellen Stand der pharmazeutischen Praxis zu informieren.
Was sollte ich bei den Fragen beachten?
Damit die KI die besten und hilfreichsten Antworten geben kann, sollten verschiedene Tipps beachtet werden. Die Frage sollte möglichst präzise gestellt werden. Denn je genauer die Frage formuliert ist, desto zielgerichteter kann die KI antworten. Vollständige Sätze erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer guten Antwort.
Wie nutze ich den Zeitfilter?
Damit die KI sich bei ihrer Antwort auf aktuelle Beiträge beschränkt, kann die Suche zeitlich eingegrenzt werden. Artikel, die älter als sieben Jahre sind, werden derzeit nicht berücksichtigt.
Sind die Ergebnisse der KI-Fragen durchweg korrekt?
Die KI kann nicht auf jede Frage eine Antwort liefern. Wenn die Frage ein Thema betrifft, zu dem wir keine Artikel veröffentlicht haben, wird die KI dies in ihrer Antwort entsprechend mitteilen. Es besteht zudem eine Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort unvollständig, veraltet oder falsch sein kann. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit der KI-Antworten.
Werden meine Daten gespeichert oder verarbeitet?
Wir nutzen gestellte Fragen und Feedback ausschließlich zur Generierung einer Antwort innerhalb unserer Anwendung und zur Verbesserung der Qualität zukünftiger Ergebnisse. Dabei werden keine zusätzlichen personenbezogenen Daten erfasst oder gespeichert.

Mehr von Avoxa