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Das Elend der modernen Medizin

07.07.2003  00:00 Uhr

Das Elend der modernen Medizin

von Christiane Berg, Freiburg

Vernichtend ist das Urteil von Professor Maximilian Gottschlich, Wien, über die moderne Medizin. Bei dem Symposium „Entdeckung des Patienten“ anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Klinik für Tumorbiologie (KTB) am 27. Juni schilderte er das sprachlose Leid der Betroffenen – hervorgerufen durch den Mangel an Kultur und Humanität.

Die Medizin ist reich an wissenschaftlichen und technischen Leistungen, jedoch arm an menschlichen Beziehungen. Arbeitsteilig organisiert und weitgehend anonym bleibt sie stumm und zeigt kaum Sensibilität für die seelischen Bedürfnisse der Menschen, kritisierte Gottschlich. Gespräche dienen allenfalls dazu, das reibungslose Funktionieren des Systems zu garantieren, konstatierte der Publizist und Kommunikationswissenschaftler. Schmerzlich vermisse er Mitgefühl und Empathie, die sich „nun mal nicht an ökonomischer Rationalität und Effizienz bemessen lassen“.

Sprachloses Leid

Werde heute von der wachsenden Vertrauenskrise in der Medizin gesprochen, so sei diese Krise primär ein Zeichen mangelnder sprachlicher Fähigkeiten auf allen Ebenen ärztlichen Handelns - „zum Schaden der Patienten, weil sie in der Isolation um die Chance kommunikativer Sinnerfahrung ihres Leidens gebracht werden, zum Schaden auch der Ärzte selbst, die in der zunehmenden Entfremdung zum Patienten ihrerseits die kommunikative Sinnerfüllung ihres ärztlichen Tuns nicht finden können“. Gottschlich sprach von einem „untragbaren Zustand“, der umso fataler sei als dass sich der Mangel an emotionaler Zuwendung nachweislich negativ auf den Heilungserfolg auswirkt.

Das Gesundheitssystem sei krank, nicht weil es unfinanzierbar, sondern weil es unfähig zum sprachlichen Miteinander geworden ist. Aus dem heilenden Arzt sei ein Ingenieur, Manager, Büro- und Technokrat mit kläglich reduziertem Menschenbild geworden, hielt Gottschlich fest. Nicht zu entschuldigen sei, dass die Medizin den leidenden Menschen zum Objekt, zum austauschbaren medizinischen „Fall“ hat „verkommen“ lassen.

Re-Humanisierung gefordert

„Aus der Haltung der Gleichgültigkeit heraus lassen sich hervorragende wissenschaftliche, medizinische Leistungen erbringen, aber zwischen der Liebe zur Wissenschaft und der Liebe zum Menschen liegen Welten“, fasste der Autor des Buches „Die heilsame Kraft des Wortes“ zusammen. Gottschlich forderte „Re-Humanisierung“ und Rückbesinnung des Arztes auf seine „Authentizität“, die ihn befähigt, mit dem eigenen inneren Leid umzugehen.

Die Wehrlosigkeit und Ohnmacht der Patienten, die nicht nur in Entscheidungsprozesse der Ärzte nicht einbezogen werden, sondern in Krankenhäusern zudem „entwürdigenden und demütigenden Umständen“ sowie der völligen Fremdbestimmung ausgesetzt sind, schilderte Hilde Schulte, Bundesvorsitzende der „Frauenselbsthilfe nach Krebs“. Auch sie bemängelte, dass dem Gespräch zwischen Arzt und Patient in der heutigen Fünf-Minuten-Medizin kein Platz mehr gewährt wird und die Verständigung lediglich über Rezeptblock und Apparate erfolgt. Dieses sei umso beklagenswerter, als dass der Patient über große innere Ressourcen und individuelle Kräfte zur Heilung und Bewältigung des Schicksals verfüge.

Schulte: „Arzt und Patient müssen miteinander reden. Sie können viel voneinander lernen.“ Keinesfalls dürfe es länger angehen, dass „Chemotherapien auf den Fluren im Beisein von Malern und Handwerkern verabreicht werden“. Wie Gottschlich hob auch Schulte hervor, dass die Medizin neue Wege gehen muss, um nicht auch noch den Rest des Vertrauens der Patienten zu verlieren.

Zur dienenden Disziplin werden

Die der Medizin zur Verfügung stehenden Mittel werden nicht unbedingt zum Wohl des Patienten eingesetzt, bemängelte auch Dr. Christoph Lohfert, Hamburg. Im Gegenteil: Die Konkurrenz um diese Mittel erzeuge Fehlsteuerungen vielfältiger Art. Je komplexer die Einrichtungen, desto größer die Gefahr des Missbrauchs, sagte der Betriebswirt. Lohfert nannte eine Medizin, die den Patienten als „Störfaktor“ betrachtet, letztlich „wertlos“.

 

Zehn Jahre Klinik für Tumorbiologie „Es muss in der Medizin um beides gehen, um die Krankheit im Menschen und um den Menschen in der Krankheit“, konstatierte Professor Dr. Gerd Nagel, wissenschaftlicher Direktor und einer der Gründungsväter der Klinik für Tumorbiologie in Freiburg. Forschung, Akutbehandlung, Rehabilitation: Die KTB fühlt sich der Schulmedizin verpflicht und ist dennoch offen für unkonventionelles Denken. Das Symposium anlässlich des zehnjährigen Bestehens der KTB, war daher auch nicht neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern schlicht der „Entdeckung des Patienten“ gewidmet. Nagel forderte den Wandel der Medizin von einer herrschenden zu einer dienenden Disziplin. Seit jeher strebt der Onkologe, der von 1986 bis 1990 Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Komitees Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg war, nicht nur die Stärkung der Patientenkompetenz und des salutogenetischen Denkens an. Er setzt sich auch für die Integration der von vielen mit großer Skepsis betrachteten Komplementärmedizin in die klassische Tumortherapie ein. Sein Lebenswerk fand nunmehr gebührende Anerkennung: Für sein Bemühen um ein neues Patientenverständnis in der Krebsmedizin wurde Nagel anlässlich des runden Jubiläums der KTB mit dem Europäischen Wissenschafts-Kulturpreis der Europäischen Kulturstiftung ProEuropa ausgezeichnet.

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