Bakterienenzym macht Neuronen den Weg frei |
08.04.2002 00:00 Uhr |
von Ulrike Wagner, Eschborn
Ist das Rückenmark durchtrennt, bleiben die Patienten für den Rest ihres Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Das könnte sich in Zukunft jedoch ändern. Wissenschaftler behandelten jetzt querschnittgelähmte Ratten mit einem Enzym aus Bakterien. Die Tiere bewegten sich danach fast wie ihre gesunden Artgenossen.
Lange waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass traumatische Rückenmarksverletzungen unheilbar sind. Allerdings weiß man inzwischen, dass Nervenzellen sehr wohl regenerieren können. Ist das Rückenmark durchtrennt, stellt sich den zarten Nervenfasern jedoch ein Dickicht aus verschiedenen Molekülen in den Weg, die letztlich für die Narbenbildung im Nervengewebe sorgen. Die Nervenenden, ein paar tausendstel Millimeter im Durchmesser, treffen auf eine schier unüberwindbare Barriere aus extrazellulärer Matrix. Deren Zusammensetzung ist komplex. Schlüsselmoleküle sind die Chondroitinsulfat-Proteoglykane. Sie bestehen aus einem Proteinanteil, an dem viele Zuckermoleküle (Glykosaminoglykane) als Seitenketten verankert sind.
Bakterien wie Proteus vulgaris produzieren Enzyme, die die Chondroitinsulfat-Proteoglykane zurechtstutzen, indem sie deren Zuckerketten abschneiden. Wahrscheinlich helfen ihnen diese Enzyme bei der Infektion.
Elizabeth J. Bradbury vom Kings College London und ihre Kollegen testeten nun eines dieser Bakterienenzyme, die Chondroitinase ABC, an querschnittgelähmten Ratten. Sie durchtrennten sensorische und motorische Nervenfasern im Rückenmark der Tiere auf Höhe des vierten Halswirbels. Anschließend infundierten sie in die Nähe des verletzten Gewebes entweder Chondroitinase ABC oder ein Kontrollprotein.
Signalleitung wieder hergestellt
Die Forscher beobachteten daraufhin bei den mit dem Bakterienenzym behandelten Tieren, dass die sensorischen Nervenzellen in den dorsalen Wurzelganglien in großen Mengen ein Marker-Protein für das Wachstum von Nervenzellen produzierten. Die sensorischen Nervenstränge selbst wuchsen bis zu vier Millimeter in Richtung Gehirn. Gleichzeitig erholte sich der ebenfalls schwer geschädigte dorsale Tractus corticospinalis, der für die Weiterleitung von Signalen aus dem Gehirn an die Extremitäten zuständig ist. Die Signalweiterleitung vom Cortex ins untere Rückenmark über die verletzte Stelle hinaus war nach der Enzymbehandlung wieder möglich, wenn auch mit geringerer Geschwindigkeit und Signalstärke, wahrscheinlich auf Grund der fehlenden Myelinscheiden. Bei den Kontrolltieren blieb der Effekt aus.
Am beeindruckendsten war jedoch zu beobachten, wie schnell die Tiere sich erholten, kommentiert Lars Olson vom Karolinska-Institut in Stockholm, Schweden, die Studie. Die Ratten liefen nach dem Experiment in verschiedenen Versuchen wieder normal oder fast normal. Die sensomotorischen Funktionen hatten sich jedoch nicht erholt, die Tiere waren nicht in der Lage, ein Stück Klebeband an ihren Pfoten zu spüren und zu entfernen.
Kombination weckt Hoffnung
Wie auch zahlreiche andere Behandlungsstrategien führt die Infusion von Chondroitinase ABC nicht zur vollständigen Heilung des Rückenmarkdefekts, so Olson. Allerdings versprechen sich die Forscher von der Kombination mehrerer Methoden in Zukunft Erfolge. So könnte man Chondroitinase ABC zum Beispiel mit Antikörpern kombinieren, die das Nervenwachstums-hemmende Protein Nogo neutralisieren. Zudem brauchen die Nervenenden Gradienten aus wachstumsaktivierenden Molekülen, an denen sich die Fasern orientieren können. Zudem wären Zellen nötig, die für die neuen Axone eine Myelinscheide zur Verfügung stellen, um die Leitungsgeschwindigkeit zu erhöhen.
Die Nebenwirkungen einer Behandlung mit dem Proteus-Enzym wären wahrscheinlich gering, schreibt Olson. Hochreine Zubereitungen der Chondroitinase ABC greifen Proteine nicht an und würden daher im Körper kaum Schaden anrichten. Allerdings erfüllen manche Chondroitinsulfat-Proteoglykane spezifische Funktionen im zentralen Nervensystem. Zum Beispiel dirigieren sie wachsende Axone, und in der grauen Substanz sind die Nervenzellen von Netzen aus spezifischen Chondroitinsulfat-Proteoglykanen umgeben, die bei den Kontakten zwischen Nervenzellen eine Rolle spielen könnten. Diese Netze würden bei einer Behandlung mit dem Enzym abgebaut und bräuchten lange Zeit, um sich wieder zu erholen. Ob dies allerdings tatsächlich in der Praxis für Nebenwirkungen sorgen könnte, ist noch unklar. Dagegen spricht, dass Chondroitinase ABC bereits erfolgreich zur Behandlung von Gehirnverletzungen bei Ratten eingesetzt wurde.
Verletzungen des Rückenmarks sind häufig. Drei bis fünf von 100.000 Menschen leiden in den USA an den Folgen. Meist trifft es junge Männer. Autounfälle, Gewaltverbrechen und Stürze sind die häufigsten Ursachen. Die meisten Opfer sind für den Rest ihres Lebens vollständig oder teilweise gelähmt.
Quellen
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