Krank durch Zellaustausch in der Schwangerschaft |
22.07.2002 00:00 Uhr |
Mikrochimärie
von Dorothee Ferger, Zürich
Während der Schwangerschaft gelangen Zellen des Ungeborenen in den Blutkreislauf der Mutter und umgekehrt. Diese Zellen überlisten das Immunsystem von Mutter oder Kind und können noch Jahrzehnte im fremden Organismus überleben. Möglicherweise lösen sie Autoimmunerkrankungen aus und sorgen für Komplikationen in der Schwangerschaft.
Mikrochimärie heißt das Phänomen, wenn in einem Menschen dauerhaft Zellen eines anderen überleben. Wissenschaftler entdeckten diese Besonderheit vor zehn Jahren zuerst bei Mutter und Kind. Aber auch Zwillinge tauschen im Mutterleib Zellen aus, die dann im fremden Körper weiterleben können. Nach massiven Bluttransfusionen muss der Empfänger ebenfalls damit rechnen, nun fremde Zellen in sich zu tragen. Ein kürzlich in der Fachzeitschrift Science erschienener Artikel fasst zusammen, was man heute über Mikrochimärie weiß, wie die fremden Zellen das Immunsystem täuschen und welche Auswirkungen ihre Anwesenheit hat.
Diana Bianchini, eine Genetikerin aus Boston, untersuchte das Blut schwangerer Frauen und entdeckte als Erste, dass dort nicht nur Zellen aus der jetzigen, sondern auch noch aus früheren Schwangerschaften vorhanden waren. Sie forschte weiter und fand in einem Fall männliche fetale Zellen im Blut einer Frau, dessen jüngster Sohn bereits 27 Jahre alt war. Zunächst nahm kaum jemand diese Befunde ernst. Heute ist das Phänomen anerkannt und wurde von zahlreichen anderen Wissenschaftlern bestätigt.
Autoimmunerkrankungen
Oft sind diese Zellen friedliche Gäste im Organismus der Mutter: Stammzellen etwa, die sich selbst erneuern oder sogar andere Zelltypen bilden, ohne Schaden anzurichten. Es geht jedoch auch anders. Mittlerweile stehen die kindlichen Zellen im Verdacht, der Auslöser von Autoimmunerkrankungen zu sein. Dazu passt auch die bisher ungeklärte Beobachtung, dass viele Autoimmunerkrankungen häufiger bei Frauen als bei Männern auftreten. Ein Beispiel dafür ist die Sklerodermie. Bei den Patienten entzündet sich die Haut und verhärtet sich bindegewebsartig. Schreitet der Prozess voran, können auch innere Organe betroffen sein. Die Symptome ähneln denen einer Abstoßungsreaktion nach einer Transplantation.
Da die Krankheit oft ausbricht, nachdem eine Frau Kinder geboren hat, fragte sich die Immunologin und Rheumatologin Lee Nelson aus Seattle, ob in der Schwangerschaft eine Immunreaktion ausgelöst wird, die dann zu Sklerodermie führt. Zusammen mit Diana Bianchini untersuchte sie das Blut weiblicher Sklerodermie-Patientinnen und gesunder Frauen auf fetale Zellen. Die Forscherinnen fanden fetale Zellen bei fast allen erkrankten Frauen und bei einigen der Kontrollpersonen. Allerdings zirkulierten bei Sklerodermie-Patientinnen 30-mal mehr fetale Zellen im Blut als bei gesunden Frauen: im Durchschnitt sieben Zellen in zehn Millilitern Blut.
Die fremden Zellen stammten aus dem Immunsystem des Kindes: Antikörper produzierende B-Zellen, T-Zellen und Monozyten. Diese Zelltypen sind darauf programmiert, den Fetus vor Eindringlingen zu schützen. Wahrscheinlich erkennen diese Zellen im Körper der Mutter deren Gewebe als fremd und greifen es an. Dann müssten die fetalen Zellen allerdings nicht nur im Blut, sondern auch in Entzündungsherden von Sklerodermie-Patienten zu finden sein.
Wissenschaftler aus Philadelphia lieferten inzwischen die Bestätigung dieser Annahme. Sie wiesen bei 11 von 19 Patientinnen tatsächlich fetale Zellen in Hautläsionen nach. Dass diese Zellen auch aktiv gegen das Gewebe der Mutter vorgehen, zeigten Forscher aus Florenz erst vor wenigen Monaten. Kultivierte fetale T-Zellen aus dem Blut und der Haut von Sklerodermie-Patientinnen griffen das mütterliche Gewebe an.
Gene verantwortlich
Warum erkennt das Immunsystem die fremden Zellen nicht und lässt sie ungeschoren davonkommen? Ein Teil der Antwort scheint in den Histokompatibilitätsgenen zu liegen. Diese Gene codieren für sogenannte HLA-Antigene (human leukocyte antigen), die auf und in den Zellen fast aller Gewebe vorkommen und dem Immunsystem helfen, fremde Zellen von den eigenen zu unterscheiden und abzutöten. Bei Transplantationen müssen daher HLA-Antigene von Spender und Empfänger optimal übereinstimmen, um eine Abstoßungsreaktion zu vermeiden.
Jeder Mensch trägt zwei Kopien jedes Histokompatibilitätsgens, eines von jedem Elternteil. Die Mutter hat also ein Gen mit ihrem Kind gemeinsam, das vom Vater ist meistens anders. Bei Frauen mit Sklerodermie stimmen jedoch bei einem Gen, genannt DRB1, beide Kopien des Kindes mit dem Gen der Mutter überein. Das Immunsystem der Mutter erkennt damit das von diesem Gen codierte Protein auf den Zellen des Kindes nicht als fremd. Da die anderen HLA-Gene jedoch unterschiedlich sind, müsste die mütterliche Abwehr trotzdem die fremden Zellen erkennen. Warum dies nicht geschieht, bleibt noch zu klären.
Eine weitere Frage ist ebenfalls offen. Die Anzahl der fetalen Zellen im Blut reicht nicht aus, um alleine eine solch starke Entzündungsreaktion im Körper der Mutter zu unterhalten. Wissenschaftler vermuten, dass die fremden Zellen die Entzündungskaskade nur auslösen. Dadurch wird das mütterliche Immunsystem aktiviert und richtet dann den eigentlichen Schaden an.
Risiko für Präeklampsie erhöht
Auch schon während der Schwangerschaft können die Zellen des Ungeborenen Schaden anrichten. Für pränatale Diagnostik isolierte der Schweizer Genetiker Wolfgang Holzgreve fetale Zellen aus dem Blut der Mutter. Er machte die überraschende Entdeckung, dass im Blut von Präeklampsie-Patientinnen viel mehr fetale Zellen zirkulierten als im Blut gesunder Schwangerer. Unter normalen Umständen findet sich eine fetale Zelle in etwa einer Million Blutzellen der Mutter. Bei Präeklampsiepatientinnen waren es aber 1000 oder mehr.
Präeklampsie tritt meist im letzten Schwangerschaftsdrittel auf. Der Blutdruck steigt gefährlich an, es treten Ödeme auf, und die Nierenfunktion verschlechtert sich. Die Geburt muss oft sofort eingeleitet werden, um das Leben der Mutter zu retten. Der Gesundheitszustand und das Überleben dieser Babies könnte verbessert werden, wenn der Arzt die Präeklampsiegefahr absehen und zum Beispiel rechtzeitig Medikamente zur Lungenreifung applizieren könnte. Holzgreve und sein Mitarbeiter stellten zwei Dinge in ihren Untersuchungen fest: Das Risiko, an Präeklampsie zu erkranken und auch die Schwere der Erkrankung nehmen zu, je mehr fetale Zellen im Blut nachweisbar sind. Somit könnte die Konzentration fetaler Zellen im Blut der Schwangeren in Zukunft als diagnostischer Marker für Präeklampsie dienen.
Seit langem vermuten Wissenschaftler, dass bei Präeklampsie ein Toxin im Blut Organe wie die Nieren schädigt, die von Endothelzellen umgeben sind. Holzgreve spekuliert, dass die fetalen Zellen selbst oder freie fetale DNA dieses Toxin sein könnten. In ersten Untersuchungen schädigten in der Tat fetale Zellen und ihre DNA Endothelzellen in vitro.
Krank durch Zellen der Mutter
Nicht nur die Mütter tragen Zellen ihrer Kinder in sich, auch im Blut des Kindes können jahrelang Zellen der Mutter überleben. Zwei unabhängige Forscherteams untersuchten Kinder und Jugendliche mit Autoimmunerkrankungen, bei denen das Muskelgewebe angegriffen wird. Im Blut und Gewebe von fast allen kleinen Patienten fanden die Wissenschaftler mütterliche Zellen. Auch gesunde Kontrollkinder trugen mütterliche Zellen, allerdings mit 20 Prozent deutlich weniger als die erkrankten Kinder.
Auch hier scheint die Antwort auf die Frage, warum die mütterlichen Zellen so lange im Körper des Kindes überleben können, in den Histokompatibilitätsgenen zu liegen: 85 bis 90 Prozent der erkrankten Kinder trugen eine spezielle Form eines HLA-Genes, das als DQ bezeichnet wird. Die Forscher vermuten, dass das Immunsystem des Kindes auf Grund dieses DQ-Gens die mütterlichen Zellen überleben lässt, denn auch die gesunden Kinder mit mütterlichen Zellen im Blut trugen dieses Gen. Zunächst tolerieren sich die mütterlichen und kindlichen Zellen gegenseitig, lautet die Theorie einiger Wissenschaftler. Dann kommt es zu einem zweiten Ereignis, und die mütterlichen Zellen greifen plötzlich das Gewebe des Kindes an.
Auch positives Potenzial
Das Phänomen Mikrochimärie hat aber nicht nur schlechte Seiten. Die meisten Menschen mit fremden Zellen, sei es von Kindern, der Mutter, dem Zwilling oder dem Blutspender, sind gesund. Zwei interessante Fallberichte zeigen bisher, dass diese Zellen auch Gewebe aufbauen können, statt es zu zerstören. Eine Mutter ließ sich ihren Kropf entfernen. Ein Teil ihrer Schilddrüse bestand überwiegend aus männlichen Zellen, vermutlich von ihrem Sohn. Bei einer anderen Frau mit Hepatitis C wurde eine Leberbiopsie durchgeführt. Ein Teil ihrer Leber bestand ausschließlich aus männlichen Zellen, die von weiblichem Gewebe umgeben waren. Die Forscher vermuten, dass in letzterem Fall im Blut zirkulierende fetale Stammzellen auf das Krankheitsgeschehen in der Leber reagierten und halfen, krankes Gewebe zu regenerieren. Wenn sich diese Vermutung bestätigt, erhält eine Frau durch die Schwangerschaft als Bonbon eine zweite Population von Stammzellen mit ungeahntem Potenzial.
Quelle: Barinaga, M., Science 296 (2002) 2169 - 2172.
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