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Computertraining hilft Teil-Erblindeten

02.12.2002  00:00 Uhr

Computertraining hilft Teil-Erblindeten

von Wolfgang Kappler, Homburg

Schlaganfall, Schädel-Hirnverletzungen, Hirntumoren: Die Ursachen für Teil-Erblindungen sind vielfältig. Für die Betroffenen bleibt auf Grund der Hirnschäden ein Teil des Gesichtsfeldes schwarz. Ein Computerprogramm soll ihrem Gehirn jetzt helfen, die vom Auge kommenden Informationen wieder besser zu verarbeiten.

Bei rund 140.000 Menschen pro Jahr kommt es infolge von Hirnschädigungen zur Teil-Erblindung, die noch bis vor zehn Jahren als schicksalhaft hingenommen wurde. Zu dieser Zeit wiesen Augenärzte und Neurologen der Universität Magdeburg erstmals nach, dass geschädigte Hirnbereiche durch gezielte Stimulation das Sehen wieder „erlernen“ können und entwickelten das so genannte visuelle Restitutionstraining, kurz VRT.

Auf Grund der Erfolge einer aktuellen Untersuchung, in der 69 von 82 Patienten nach Abschluss des Trainings über deutliche Sehverbesserungen berichteten, bietet jetzt die AOK Sachsen-Anhalt 100 ihrer Versicherten kostenlos die zu Hause anwendbare Schulung an, um die Wirksamkeit des VRT zu belegen. Bestätigt das auf ein Jahr ausgelegte Modellprojekt die positiven Erfahrungen, könnten am Ende generell die Kosten in Höhe von derzeit 2200 Euro übernommen werden, da Teil-Erblindete, die wieder sehen lernen, weniger unfallgefährdet sind, was den Kassen letztlich Folgeausgaben erspart.

Teil-Erblindung lässt sich vier Kategorien zuordnen. Häufig tritt zum Beispiel nach Schlaganfall eine halbseitige Blindheit auf (Hemianopsie). Betroffene sehen mit beiden Augen nur noch die Hälfte des normalen Bildes. Bei der Quadrantenanopsie fehlt ein Viertel des Bildes, beim Tunnelblick kann nur noch im zentralen Teil des Gesichtsfeldes gesehen werden und beim Skotom stören dunkle Flecken das Bild. Solcherart Betroffene übersehen allzu leicht Stolperfallen, Türpfosten und sonstige Hindernisse. Gefahrenmomente werden nicht rechtzeitig wahrgenommen, die Unfallgefahr ist groß.

Gesichtsfeld lässt sich ausdehnen

Als Wissenschaftler Anfang der 90er-Jahre versuchten, das Ausmaß der Gesichtsfeldeinschränkung Teil-Erblindeter zu erfassen, machten sie eine erstaunliche Entdeckung. Mit jeder wiederholten Messung an der Grenze zum blinden Bereich weitete sich der intakte Bereich aus. Bei einer solchen Messung erscheinen winzige Lichtpünktchen in unterschiedlichen Winkeln zum Auge, deren Wahrnehmung die Patienten bestätigen.

Die Forscher entwickelten zwei Erklärungsmodelle, die beide auf der Annahme gründeten, dass es offenbar innerhalb des geschädigten Hirn- oder Sehnervengewebes Zellverbände gibt, die ihre bildverarbeitenden Funktionen nur zum Teil eingebüßt haben. Das erste Modell geht davon aus, dass diese teilgeschädigten neuronalen Zellen durch gezielte Lichtstimulation direkt aktiviert werden können. Modell Nummer zwei besagt, dass intakte Zellen im Randbereich der Gewebeschädigung die schwachen Signale aus den stimulierten teilgeschädigten Bereichen mitverarbeiten. Welches der beiden Modelle der Realität am nächsten kommt, ist Gegenstand der aktuellen Forschung.

Die ersten Resultate genügten jedoch Professor Dr. Bernhard Sabel und Privatdozent Dr. Erich Kasten von der Universitätsaugenklinik Magdeburg, um für Teil-Erblindete ein spezielles Computer-Sehtraining zu entwickeln, das gezielt die noch vorhandenen Restfunktionen geschädigter Sehzellen aktiviert. 1998 berichtete die Fachzeitschrift Nature Medicine über die erste Studie: 34 von 38 trainierten Patienten sahen wieder besser. Aus dem zwischenzeitlich von Sabel und Kasten gegründeten Sehzentrum Magdeburg ging vor zwei Jahren die NovaVision AG hervor, die das zur Marktreife entwickelte VRT vertreibt, das mit dem Technologiepreis der Europäischen Gemeinschaft ausgezeichnet wurde.

Zweimal täglich trainieren

Im Magdeburger Sehzentrum oder bei einem kooperierenden Augenarzt erfolgt zunächst die exakte Vermessung des Gesichtsfeldes. Auf Grund der Daten wird ein individuelles Trainingsprogramm erstellt. Die Software wird auf dem heimischen PC installiert, an dem zweimal täglich für je eine halbe Stunde trainiert wird. Der Kopf des Patienten ist dabei in einer Stützvorrichtung fixiert, während er auf einen Lichtpunkt in der Mitte des Bildschirms blickt. Gezielt werden Lichtimpulse in jene Bereiche des Gesichtsfeldes projiziert, die bislang dunkel blieben. Jeder erkannte Lichtblitz wird per Tastendruck bestätigt. So zeichnet der Computer exakt auf, was die Patienten wahrnehmen.

Nach vier Wochen werden die Daten per E-Mail oder Diskette nach Magdeburg geschickt und ausgewertet. Umgehend erhält der Nutzer dann ein angepasstes Trainingsprogramm für die nächsten vier Wochen. Bereits nach einem halben Jahr hat sich für die meisten das Sehvermögen deutlich verbessert. Dabei gilt: Ein vergrößertes Gesichtsfeld von fünf Grad entspricht bereits einer Viertel Din-A4-Seite in Leseentfernung. „Bis heute haben wir 525 Patienten mit dem VRT helfen können“, berichtete NovaVision-Geschäftsführer Dr. Gereon Boos kürzlich beim Trierer Symposium „Sichere Telemedizin“, wo er darauf hinwies, dass das Computer- und Internet-gestützte Training eine der ersten erfolgreich getesteten telematischen Systeme zur Behandlung von Patienten überhaupt sei.

Inzwischen haben die Anbieter VRT auch für die Behandlung von Kindern mit Hirntumoren oder Schädelverletzungen modifiziert. Statt des Lichtpunktes in der Bildschirmmitte bindet Hund Wuffi mit seiner schwarzen Knollennase die Aufmerksamkeit der Kinder, die statt aufblitzender Lichtsignale auf Wuffi zufliegende Knochen erkennen müssen.  Top

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