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"Die Züchtung von Leber und Hirn ist utopisch"

12.11.2001  00:00 Uhr
EMBRYONALE STAMMZELLEN

"Die Züchtung von Leber und Hirn ist utopisch"

von Ulrike Wagner, Freiburg

Auch wenn viele Forscher versuchen, die Öffentlichkeit mit Visionen von der Verwendung embryonaler Stammzellen zu überzeugen, von Ersatzorganen aus diesen Zellen sind sie noch Lichtjahre entfernt. Das wurde während eines Pressegesprächs anlässlich des ersten Symposiums der "European Tissue Engineering Society" (ETES) letzte Woche in Freiburg deutlich.

Das Problem: Komplexe Gewebetypen oder gar ganze Organe lassen sich derzeit nicht aus einzelnen Zellen züchten. Dazu brauchen die Wissenschaftler unterschiedliche Zelltypen in einer komplexen Anordnung, mit eingebauter Blutversorgung und einer funktionellen Matrix, erklärte Professor Dr. G. Björn Stark, Ärztlicher Direktor der Abteilung Plastische und Handchirurgie, Chirurgische Universitätsklinik Freiburg. Die Zellen zu gewinnen und in ausreichender Menge zu vermehren, ist heutzutage kein Problem mehr. Daraus ein funktionsfähiges Organ zu züchten, ist aber noch Zukunftsmusik.

Organe gesucht

"Was wir brauchen, sind Organe", bekräftigte Professor Dr. Yann Barandon vom Department of Biology der Ecole Normale Superieure in Paris. Und die stünden bereits zur Verfügung, wenn sich mehr Menschen zur Organspende bereit erklären würden. "Die Öffentlichkeit glauben zu lassen, wir wären schon nah daran, transplantationsfähige Organe zu züchten, ist falsch." Viele Menschen hielten es auf Grund solcher Versprechungen nicht mehr für nötig, Organe zu spenden, vermutete der französische Forscher.

Auch wenn die Erwartungen zu groß sind, auf die Forschung mit embryonalen Stammzellen will keiner der Wissenschaftler verzichten. Für das Tissue Engineering, wie es derzeit praktiziert wird, seien die umstrittenen Zellen zwar nicht nötig. Trotzdem plädierten alle für die vor allem in Deutschland umstrittene Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. Nur so könne man auch in Zukunft das Potenzial des Tissue Engineering ausschöpfen, sagte Professor Dr. Robert M. Nerem, Georgia Tech/Emory Center for the Engineering of Living Tissues, Atlanta, USA. Nur die Erforschung der menschlichen Entwicklung vom ersten Augenblick an erlaube, auch die Potenziale anderer Zellen zu nutzen. Ob adulte Stammzellen zum Beispiel ähnlich gut geeignet sind wie die embryonalen, können die Wissenschaftler nicht beantworten, solange sie nicht mit embryonalen Stammzellen arbeiten dürfen.

Risiko für Tumoren

Ob die Zellen aus menschlichen Embryonen eines Tages tatsächlich an Patienten angewendet werden können, ist zurzeit noch völlig unklar. Embryonale Stammzellen können zum Beispiel die Entwicklung von Tumoren auslösen. Immunsupprimierte Mäuse hatten Teratome entwickelt, nachdem sie mit embryonalen Stammzellen behandelt worden waren, sagte Professor Dr. Ranieri Cancedda vom nationalen Krebsforschungsinstitut in Genua, Italien. Solange dieses Risiko nicht ausgeschlossen werden kann, ist an klinische Studien mit den Zellen nicht zu denken. Bei adulten Stammzellen haben die Wissenschaftler das Phänomen bislang nicht beobachtet. "Aber die Zellen sind ungleich schwerer zu isolieren", erklärte Cancedda.

Zudem sei noch gar nicht klar, ob es tatsächlich möglich ist, aus den Zellen Gewebe zu züchten. Man müsse erst einmal die passenden Bedingungen dafür finden, sagte der italienische Forscher. Und auch hier sind die Wissenschaftler noch nicht besonders weit. "Wir wissen noch nicht einmal, warum die adulten Stammzellen der Haut eine Wunde nicht ohne Narbenbildungen verschließen können", sagte Barandon. Embryonale Zellen seien sehr wohl dazu in der Lage. "Zuerst muss man erst einmal das verstehen." Vor diesem Hintergrund sei die Züchtung von Leber und Hirn eine Utopie.

Mensch ist keine große Maus

Auf die Forschung mit embryonalen Stammzellen von Tieren wollen sich die Wissenschaftler nicht beschränken. Denn die Tierversuche ließen keine direkten Rückschlüsse auf das Potenzial menschlicher Zellen zu. Versuche mit embryonalen Stammzellen von anderen Tieren, zum Beispiel Kaninchen, waren längst nicht so erfolgreich wie die mit Mäusen. Vielleicht ist die Maus ja etwas Besonderes, ein absoluter Ausnahmefall, was die Plastizität der embryonalen Stammzellen angeht, gab Polak zu bedenken.

Was die Zukunftsaussichten des therapeutischen Klonens angeht, äußerten sich die meisten Wissenschaftler sehr kritisch. Dabei wird aus der Körperzelle eines Patienten der Kern entnommen und in eine Eizelle übertragen. Mit der Methode hoffen einige Wissenschaftler, Gewebe züchten zu können, das vom Empfänger nicht als fremd erkannt werden, weil sie die gleiche Erbinformation und damit auch dieselben Oberflächenantigene tragen wie der Patient. Da dabei theoretisch eine identische Kopie eines lebenden Menschen entsteht, ist die Methode in Deutschland außerordentlich umstritten. Aber auch was die Forschungsergebnisse angeht, scheint sie wenig Erfolg versprechend.

"Bei keinem einzigen Meeting, an dem ich bislang teilgenommen habe, haben Kollegen tatsächlich von Erfolgen des therapeutischen Klonens berichtet", sagte Polak. Zudem könne man die Toleranz des Patienten auch anders erreichen, zum Beispiel indem man die Oberflächenantigene der gezüchteten Zellen gezielt dahingehend verändert, dass sie vom Immunsystem nicht mehr als fremd erkannt werden. Hier eine Grenze zu ziehen und die Forschung zum therapeutischen Klonen zu stoppen, wollen die Wissenschaftler jedoch auch nicht. "Wir brauchen mehr Ergebnisse, bevor man diese Tür endgültig schließt", sagte Polak.

Transparenz nötig

Bei der Forschung mit menschlichen embryonalen Zellen sei absolute Transparenz nötig, sagte die Gewebespezialistin aus England. Zum Beispiel müsse offen gelegt werden, woher die humanen embryonalen Stammzellen stammen, und die Ergebnisse der Arbeiten sollten den Wissenschaftlern weltweit zur Verfügung gestellt werden.

Ähnlich äußerte sich auch Nerem. Die amerikanische Entscheidung, die Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen mit öffentlichen Mitteln zu unterstützen, sei dafür besonders wichtig gewesen. Denn nur Wissenschaftler, deren Arbeit staatlich gefördert wird, müssen ihre Ergebnisse berichten. Private Unternehmen haben keinerlei Veranlassung, ihre Erkenntnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

Auch wenn sich die Forscher durchweg positiv zur Verwendung der Stammzellen aus menschlichen Embryos äußerten, hier und da wurden doch nachdenkliche Stimmen laut. "Wenn wir die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen erlauben, wird früher oder später jemand sie zu früh einsetzen", befürchtete Stark. Ansonsten waren die Bedenken eher gering. Für die Wissenschaftler scheint es keinen großen Unterschied zu machen, ob sie eine Zelle aus einem menschlichen Embryo oder eine aus der Haut eines erwachsenen Menschen unter dem Mikroskop haben. Trotzdem waren sie der Meinung, dass ihre Arbeit von der Zustimmung der Öffentlichkeit getragen werden muss.

 

Tissue Engineering Bei dieser Methode soll lebendiges Gewebe Defekte ausgleichen. Dem Patienten selbst werden dazu bisher kleine Mengen von Zellen entnommen, diese Zellen vermehrt und im Labor auf geeigneten Trägermaterialien differenziert. Falls nötig, wird das Wachstum mit biochemischen Wachstumsfaktoren oder per Gentherapie gesteuert. Kultivierte Keratinozyten waren die ersten klinisch routinemäßig eingesetzten Zellkulturen überhaupt, die zunächst Patienten mit schweren Verbrennungen zugute kamen. Zunehmend werden auch chronische Wunden mit Suspensionen aus Keratinozyten und Fibrin behandelt. Erst in letzter Zeit kommen Knorpelzellen bei der Gelenkrekonstruktion zum Einsatz.

Das Forschungsgebiet expandiert, erklärte Stark. War es vor einigen Jahren noch eine kleine Gruppe, die sich mit Tissue Engineering befasste, so trafen sich in Freiburg bereits 600 Forscher aus der ganzen Welt.

 

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