Leben mit Epilepsie |
21.04.2003 00:00 Uhr |
Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Krankheiten überhaupt. Knapp ein Prozent der Deutschen, also etwa 600.000 bis 800.000 Menschen, sind davon betroffen. Vorurteile und Missverständnisse sind in der Öffentlichkeit nach wie vor weit verbreitet. Die PZ sprach mit Professor Dr. Gunter Gross-Selbeck, Chefarzt des Kinderneurologischen Zentrums in Düsseldorf, über die Erkrankung.
PZ: Mit Epilepsie verbinden die meisten Menschen nur den schweren Anfall, den so genannten Grand-mal-Anfall. Die Vorurteile gegenüber der Krankheit beziehen sich hauptsächlich auf diese Erscheinungsform. Woran erkennt man kleinere Anfälle und wie stark beeinträchtigen diese das Sozialleben der Betroffenen?
Gross-Selbeck: Ein kleiner Anfall kann sich mit unscheinbaren Anzeichen äußern, zum Beispiel in Form von kurzen Bewusstseinspausen (Absencen). Wenn jemand etwa plötzlich einen starren Blick bekommt. Ein anderes Symptom sind einmalige kurze Zuckungen, die durch den Körper des Betroffenen fahren. Vor allem bei Jugendlichen kann sich die Epilepsie auf diese Weise schon früh äußern.
PZ: Wird sie dann auch als solche diagnostiziert?
Gross-Selbeck: Ja, sofern die Betroffenen oder das Umfeld die Symptome bemerken beziehungsweise als störend empfinden. Denn diese Zuckungen belasten die Patienten eigentlich nicht in ihrem Alltag. Wenn jemand über solche Mini-Krämpfe klagt, kann man bei der Untersuchung ein Ausschlagen der Hirnstromkurve beobachten. Zu diesem Zeitpunkt ist die Epilepsie mit Hilfe von Medikamenten sehr gut in den Griff zu bekommen.
PZ: Muss die Medikation beibehalten werden?
Gross-Selbeck: Ja, die Medikation muss danach permanent erfolgen.
PZ: Sind diese ersten Anzeichen Vorläufer für spätere schwerere Anfälle?
Gross-Selbeck: Anfälle dieser Art müssen nicht zwangsläufig mit großen Anfällen einhergehen, das Risiko hierfür liegt ungefähr bei 50 Prozent.
PZ: Außer großen Anfällen und Absencen werden auch Verhaltensänderungen mit Epilepsie in Zusammenhang gebracht. Wie entstehen und äußern sich diese?
Gross-Selbeck: Zum Teil beruhen solche Aussagen auf Vorurteilen. Bei der Epilepsie treten normalerweise keine Verhaltensänderungen auf. Eine Ausnahme bilden die Patienten, die auch mit einer medikamentösen Therapie nicht anfallsfrei werden – etwa 20 Prozent der Epilepsie-Kranken. Ein kleiner Teil dieser Betroffenen erleidet häufig Anfälle und wird mit hoch dosierten Medikamenten mit zum Teil deutlichen Nebenwirkungen behandelt. Unter diesen Umständen kann es zu Wesensänderungen kommen.
PZ: Unter den Epilepsie-Kranken ist die Zahl der Arbeitslosen zwei- bis dreimal höher als in der restlichen Bevölkerung. Entspricht die hohe Arbeitslosenquote tatsächlichen Gefahren, die die Epilepsie für die Betroffenen und ihre Umgebung am Arbeitsplatz birgt?
Gross-Selbeck: Nein, das ist keineswegs verhältnismäßig. Auch hier sind wieder Vorurteile im Spiel. Viele Arbeitgeber befürchten einen Anfall des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz.
PZ: Die meisten denken dabei sofort an einen großen Anfall.
Gross-Selbeck: Natürlich. Bei einer Bewerbung muss die chronische Krankheit auf Nachfrage angegeben werden. Die daraus bestehende Benachteiligung ist allerdings ungerechtfertigt. Ausgenommen sind Berufsgruppen, in denen eine große Verantwortung für Dritte hinzukommt.
PZ: Piloten zum Beispiel.
Gross-Selbeck: Zum Beispiel. Als Epilepsie-Kranker kann man kein Pilot werden und auch nur sehr schwer Busfahrer oder Zugführer. Ich denke, in diesen Bereichen ist das auch sinnvoll.
PZ: Bei vielen Epileptikern äußert sich die Krankheit schon früh. Haben betroffene Kinder dadurch Lernschwierigkeiten?
Gross-Selbeck: Etwa 30 Prozent der Kinder haben Lernschwierigkeiten. Aber nicht die Epilepsie ist die Ursache für die Lernstörung. Häufig liegt eine Hirnfunktionsstörung vor, die auch ursächlich für die Epilepsie ist.
PZ: Einen Zusammenhang zwischen Epilepsie und der Gedächtnisleistung gibt es also nicht?
Gross-Selbeck: Nicht unbedingt. Im späteren Verlauf kann es natürlich durch dauerhafte Anfälle und Medikation zu einer Beeinflussung der Lernfähigkeit kommen.
PZ: Wie sieht es mit Einschränkungen bei Hobbys aus? Ist Sport ein Risikofaktor?
Gross-Selbeck: Nein, eine größere Einschränkung sehe ich für Epilepsie-Patienten nicht. Einige meiner Kollegen raten von Leistungssport ab. Im Grunde bleibt es eine individuelle Entscheidung. Wenn Eltern ihr betroffenes Kind einmal in der Woche zum Schwimmen gehen lassen, dann ist die Wahrscheinlichkeit für einen Anfall statistisch natürlich höher als bei einem Kind, das bislang nicht an Epilepsie erkrankt ist. Aber bei vielleicht einem Anfall pro Monat ist die Wahrscheinlichkeit nicht sehr groß, dass das Kind ihn während dieser Schwimmstunde erleidet. Mit der gleichen Wahrscheinlichkeit werden Sie oder ich heute auf dem Heimweg von einem Auto angefahren. Das sind Risiken, die das Leben mit sich bringt.
PZ: In der Vergangenheit wurde epilepsiekranken Frauen oft von einer Schwangerschaft abgeraten. Wie ist der aktuelle Stand?
Gross-Selbeck: Wünschenswert ist aus ärztlicher Sicht eine geplante Schwangerschaft, da die Medikation im Vorfeld schon entsprechend eingestellt werden kann.
PZ: Können Betroffene die Häufigkeit der Anfälle reduzieren, indem sie bestimmte Situationen meiden, zum Beispiel bestimmte Videospiele?
Gross-Selbeck: Auch dies sind weit verbreitete Vorurteile. Selbst neue Spiele und die schneller werdende Bildfolge im Fernsehen führen nicht zu einer Anfallssteigerung. Allerdings gibt es seltene Fälle von genetisch bedingter Photoepilepsie. Schnell wechselnder Lichteinfall kann bei diesen Patienten zu einem epileptischen Anfall führen.
PZ: Epilepsie-Kranke können ab einem Behinderungsgrad von 50 einen Behindertenausweis beantragen. Wie ist diese Bewertung auf das Krankheitsbild übertragbar?
Gross-Selbeck: Dies betrifft nur Patienten, die über einen längeren Zeitraum nicht anfallsfrei sind. Ich spreche lieber von „Einschränkung ihrer Möglichkeiten“ als von Behinderung, denn diese Menschen sind zu Zeiten, in denen sie keinen Anfall haben, keineswegs behindert oder in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Aber die Patienten können einen solchen Ausweis beantragen. Es gibt Richtlinien, keine festgesetzten Werte. Ich selbst erstelle solche Gutachten, wenn der Betroffene es wünscht.
PZ: In besonders schweren Fällen hilft nur noch eine Operation. Wann ist diese indiziert?
Gross-Selbeck: Nicht in besonders schweren Fällen, nur in besonderen Fällen. Wenn jemand eine angeborene niedrige Krampfschwelle hat, ist eine Operation nicht möglich. Wenn allerdings eine Herdepilepsie vorliegt und sich mit Hilfe von EEG und anderen Untersuchungsmethoden die Stelle genau lokalisieren lässt, kann eine Operation indiziert sein. Bei einigen Patienten führt ein solcher Eingriff zur Anfallsfreiheit. Dabei kommt es natürlich darauf an, welcher Teil des Gehirns betroffen ist. Aus dem Sprachzentrum können wir zum Beispiel kein Gewebe entfernen.
PZ: Gilt das Durchtrennen der beiden Hirnhälften im Corpus callosum noch als therapeutische Option?
Gross-Selbeck: Diese Operation wird nur noch sehr selten und bei besonders schwer betroffenen Patienten eingesetzt. Zum Beispiel bei Epilepsie-Kranken, die regelmäßig auf Grund ihrer Anfälle stürzen. Um dies zu verhindern, kann die Operation nötig sein. Diese trägt dann aber nicht zur Heilung des Patienten bei. Wir sprechen von einem palliativen Eingriff. /
Vorurteile weit verbreitet Umfragen haben ergeben, dass 20 Prozent der Bevölkerung die Epilepsie für eine Geisteskrankheit halten. 15 Prozent würden ihren Nachwuchs nicht mit einem epilepsiekranken Kind gemeinsam spielen lassen. 11 Prozent sprachen sich sogar gegen die Eingliederung eines Epilepsiekranken in den Arbeitsprozess aus. Diese Vorurteile sind völlig unbegründet, denn rund 70 Prozent der Patienten bleiben unter geeigneter Therapie dauerhaft anfallsfrei. Während der Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Sektionen der Internationalen Liga gegen Epilepsie in Berlin setzten sich Experten deshalb für die Aufklärung über die Krankheit und den Abbau von Vorurteilen ein.
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