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Nanopipelines, Zellkäfige und ziehende Singvögel

22.04.2002  00:00 Uhr
Philip-Morris-Forschungspreis

Nanopipelines, Zellkäfige und ziehende Singvögel

von Brigitte M. Gensthaler, München

Nanoröhrchen und -lassos, lebende Zellen im Radiowellenkäfig, Genprogramme bei Zugvögeln und Theorien zur Migration in Europa: Für ihre ausgezeichneten Leistungen auf diesen Arbeitsgebieten erhalten vier Forscher im Juni den Philip-Morris-Preis. In München stellten sie ihre Arbeiten vor.

Der Forschungspreis wird in diesem Jahr zum 20. Mal verliehen. Der mit 100.000 Euro dotierte Preis fördert zukunftsweisende natur- und geisteswissenschaftliche Leistungen und will Spitzenforschung und die dahinter stehenden Menschen öffentlich bekannt machen, sagte der Vorsitzende der Jury, Professor Dr. Dr. Paul Müller, vor Journalisten in München. Die vier Preisträger seien "exzellente Botschafter internationaler Spitzenforschung".

Zellen im Radiowellenkäfig

Wie kann man einzelne lebende Zellen sortieren, drehen und untersuchen, ohne sie zu berühren? Der wenige Quadratmillimeter große Laborchip von Professor Dr. Günter Fuhr aus Saarbrücken bietet eine Lösung. Damit habe dieser ein universelles Werkzeug für die moderne Bioforschung geschaffen, lobt die Jury den vielseitigen Forscher.

Fuhr, Direktor des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik in St. Ingbert und Professor an der Universität des Saarlandes, hat auf einem Mikrochip aus Glas und Silizium ein Minilabor gebaut. Kernstück sind bis zu 64 exakt angeordnete Mikroelektroden, über die hochfrequente elektrische Felder von wenigen Volt angelegt werden. Dieses Energieminimum schadet den Zellen nicht, erläuterte der Biophysiker. Die Zellen wandern in einer Nährlösung auf dem Chip, passieren Trichter und Weichen, in denen sie in Reihe angeordnet oder computergesteuert in ihrer Richtung geleitet werden. In einem elektrischen Magnetkäfig kann jede einzelne Zelle berührungsfrei festgehalten, positioniert, hin- und hergedreht werden - sie schwebt in dem Käfig aus Radiowellen.

Fuhr und seine Mitarbeiter können sie mit anderen Substanzen oder Zellen in Kontakt bringen, um Reaktionen zu testen, die Differenzierung zu verfolgen und die Kommunikation zwischen Zellen zu beobachten. Wie wichtig die Erforschung der Zell-Zell-Interaktionen ist, verdeutlicht das Immunsystem. Jeder Zellkontakt kann hier eine Kaskade von Reaktionen auslösen. Wissenschaftliche Erkenntnisse erhofft er sich auch in der Tumorbiologie, sobald einzelne Zellen als Auslöser des ungezielten Wachstums identifiziert werden könnten. Der Zellchip wird von dem Hamburger Unternehmen Evotec OAI vermarktet; die Biochips baut die GeSim mbH bei Dresden.

Fuhr ist inzwischen einen Schritt weiter. Er untersucht, wie man eine wertvolle Zelle konservieren und zusammen mit Informationen aufheben kann. "Wir arbeiten daran, sortierte Zellen wie adulte Stammzellen in Kälte abzulegen und mitsamt dem Mikrochip zu konservieren", berichtete Fuhr in München. Die heutigen Verfahren seien nicht ausgereift. Er entwickelt Gefriergefäße für einzelne Zellen, verbunden mit Computerspeichern, im Fachjargon mikrosystembasierte Kryosubstrate, und untersucht das Verhalten von Computerchips bei minus 196 °C.

Erfahrungen mit Kälte, wenn auch nicht bei ganz so tiefen Temperaturen, sammelte der Forscher bei acht Arktisexpeditionen. Ein weiteres Arbeitsfeld von ihm sind Schneealgen, Einzeller mit exotischem Stoffwechsel, die wegen ihrer Kältetoleranz für den Biophysiker und Pflanzenphysiologen hochinteressant sind.

Röhrchen im Zwergenformat

Röhren, Stangen, Ringe, Membranen und Lassos sind keine ungewöhnlichen Bauteile in der Welt der Technik. Außergewöhnlich sind Größe und Präzision der Strukturen, die der Physiker Dr. Oliver Schmidt herstellt. Die Bauteile sind nur wenige Nanometer, also Millionstel Millimeter groß. Ganze Industriebranchen der Nanotechnik und die Halbleitertechnologie könnten davon profitieren.

Schmidt, der seit letztem Jahr die Arbeitsgruppe Molekularstrahlepitaxie am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart leitet, erklärte das geniale Verfahren. Er kombiniert zwei Strategien, um Nanostrukturen zu schaffen. Der "Bottom-up"-Ansatz nutzt das Phänomen der physikalischen Selbstorganisation von Atomen. Auf einer Oberfläche entstehen Nanoschichten mit perfektem Kristallgitter, allerdings nach dem Zufallsprinzip verteilt. Mit konventionellen lithografischen Techniken wie sie bei der Herstellung von Computerchips eingesetzt werden - der "Top-down"-Ansatz -, gibt der Physiker vor, an welcher Stelle sich das Bauteil bilden soll.

Wie entsteht ein Nanoröhrchen? Auf einer Oberfläche wird zunächst eine "Opferschicht" aufgetragen, über die eine oder mehrere Lagen eines Materials gezogen werden, aus denen das Teilchen bestehen soll. Diese dünnen Schichten entstehen mit Hilfe der Molekularstrahlepitaxie. Wird nun die Opferschicht selektiv weggeätzt, bleibt ein hauchdünner Film, der sich auf Grund innerer Materialspannung von selbst spiralförmig aufrollt: ein Nanoröhrchen mit dem Durchmesser eines Tausendstels eines Haares. Die abgelösten Schichten lassen sich zu verschiedenen Formen falten und biegen.

Über deren Verwendung lässt sich phantasievoll spekulieren. Die winzigen Röhrchen, die Schmidt gemeinsam mit seinen Kollegen Dr. Karl Eberl und Christoph Deneke hergestellt hat, könnten als Pipelines oder Pipetten für Flüssigkeiten oder als Pinzetten in der Nanotechnik dienen. Sie könnten die Funktion elektrischer Spulen übernehmen oder zu Transformatoren zusammengesetzt werden. Aufgerollte Metallschichten mit einer Isolierschicht sind als Kondensatoren denkbar.

Schmidts Augen leuchten, wenn er von einem neuartigen Transistor berichtet. Es gelang den Physikern, Nanoinseln aus Germanium an definierten Stellen auf einer Siliziumschicht zu erzeugen. Die geordneten Inseln wirken wie punktförmige Quantensysteme und könnten einmal die zentralen Elemente von winzigen Transistoren oder sogar Quantencomputern sein. Die Methode ist nicht auf Germanium und Silizium beschränkt. Schmidt hat sie bereits erfolgreich auf die Halbleiterkombination Gallium-/Indiumarsenid angewandt - ein Materialmix, den jeder in seinem Handy mit sich trägt.

Blitzevolution beim Vogelzug

Auf den ersten Blick viel griffiger als physikalische Grundlagenforschung erscheinen die Arbeiten des Biologen und Vogelzugforschers Professor Dr. Peter Berthold. Rund 50 Milliarden Vögel wandern jedes Jahr um den Erdball. Doch woher wissen die Tiere, wann sie wohin fliegen müssen? Seit vierzig Jahren beobachtet und züchtet Berthold, seit 1998 Direktor der Vogelwarte Radolfzell der Max-Planck-Gesellschaft, Zugvögel.

Mit Hilfe einiger Singvogelarten, der Mönchsgrasmücke sowie Rotschwänzen, führte er zwei neue Arbeitsgebiete in die Zugforschung ein: die experimentelle Genetik und die experimentelle Evolutionsbiologie. Anhand von Kreuzungs- und Selektionsexperimenten belegte Berthold, dass der jährliche Wandertrieb unmittelbar genetisch gesteuert wird. Beginn, Dauer und Ende der Wanderung, Richtungs- und Zielfinden seien ebenso genetisch determiniert wie das Anlegen von Fettdepots, von denen die Vögel bei langen Hunger- und Durststrecken zehren. Vögel, die von standorttreuen Eltern aufgezogen wurden, beispielsweise ein junger Kuckuck, finden ihr Winterquartier durch die angeborene Zugrichtung und ein Flugzeitprogramm, erläuterte Berthold.

Das genetische Programm hilft Vögeln, sich rasch an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. "Verblüffend ist vor allem das Tempo dieser Mikroevolution. Es übertrifft alles, was wir bislang bei Wirbeltieren für möglich gehalten haben." Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Teilzug, bei dem einige Vögel regelmäßig wegziehen und der Rest der Population als Standvögel im Brutgebiet bleibt. Amseln sind ein Beispiel für dieses Zugverhalten. Teilzieher können in wenigen Generationen zu reinen Zug- oder Standvögeln selektiert werden, bewies der weltweit hochangesehene Vogelzugforscher in Experimenten mit Mönchsgrasmücken. Auch im Freiland könne man dies belegen: Mönchsgrasmücken entwickeln seit rund vierzig Jahren von Mitteleuropa aus eine neue Zugrichtung in ein neues Winterquartier auf den Britischen Inseln. Das veränderte Zugverhalten führt der Forscher vor allem auf die Klimaerwärmung zurück.

Berthold hat damit eine völlig neue Vogelzugtheorie entwickelt: Teilzug ist die häufigste Lebensform für Vögel und weltweit verbreitet. Ziehen und Nichtziehen sind danach keine getrennten Verhaltensweisen, sondern gehen durch Selektion ineinander über. Vögel seien wahrscheinlich generell Teilzieher, besitzen also Gene für beide Verhaltensweisen, erklärte er in München. Daher können sich Singvögel bei gerichteter Selektion innerhalb von nur 25 Generationen oder vierzig Jahren vollständig anpassen.

Migranten in Deutschland

Wanderbewegungen und ihre Auswirkungen auf Wandernde und Ansässige, allerdings auf ganz anderem Gebiet, beobachtet auch Professor Dr. Klaus J. Bade, der an der Universität Osnabrück neueste Geschichte lehrt. Bade ist einer der bekanntesten Migrationsforscher der Gegenwart und Mitbegründer des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Uni Osnabrück. Die Begegnung mit dem "Eigenen" und dem "Fremden" ist eines seiner Leitthemen.

Das 21. Jahrhundert sieht er als Jahrhundert der Flüchtlinge und Migranten. Zuwanderung bedeute nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Gestaltungsaufgabe und Chance, sagte der Historiker in München. Doch: "Was man verdrängt, kann man nicht gestalten." Deutschland habe es lange versäumt, über Migration und Integration nachzudenken. Unter dem Motto "Deutschland ist kein Einwanderungsland" sei die Einwanderungsfrage jahrzehntelang politisch verleugnet und Prognosen negiert worden. Vor dieser "negativen Erkenntnisverweigerung" habe er bereits Anfang der achtziger Jahre gewarnt. Die Parole vom "vollen Boot" bezeichnete er als absurde Gespensterdebatte.

Bade forderte "Mut zur Gestaltung und Einsicht in die Grenzen der Gestaltbarkeit". Zuwanderung sei nur begrenzt steuerbar, beschied er der aktuellen Debatte um den gewünschten Zuzug hochqualifizierter Experten. Die meisten Migranten suchten nach Erfolg und sozialem Aufstieg in der ansässigen Gesellschaft; Integrationsziel sei ihre gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft, ihrer Kultur und ihren Werten. Die Botschaft des Historikers für die Zukunftsgestaltung einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft hat zwei Seiten: geregelte, bei Zuwanderungsdruck auch begrenzte Zuwanderung von außen, verbunden mit ausreichenden Integrationsangeboten und tiefgreifenden Reformen im Inneren. Top

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