Das Gehirn sieht nur die halbe Wahrheit |
24.03.2003 00:00 Uhr |
Weil menschliche Sinnesorgane ungenau arbeiten, vermitteln sie dem Gehirn nur einen vagen Eindruck von der Umwelt. Das Gehirn weiß sich zu helfen, indem es Veränderungen, die nicht zu den Erwartungen passen, einfach vergisst. Bei der auf den ersten Blick nachlässigen Informationsverarbeitung handelt es sich jedoch um ein optimiertes System, zeigen aktuelle Untersuchungen.
Das Gehirn leistet permanent Schwerstarbeit, auch wenn Menschen glauben, sich zum Beispiel vor dem Fernseher zu entspannen. Ständig nimmt es Informationen auf, bewertet und verwirft sie und bastelt aus vielen Einzelteilchen ein komplettes Bild.
Dabei haben die Augen allerhand zu tun. Zwar können sie sehr scharf sehen, aber dies nur in einem stark eingeengten Gesichtsfeld. Sie betrachten also immer nur einen winzigen Punkt vom Ganzen. Um trotzdem ein vollständiges Bild zu erhalten, bewegen sich die Augen sehr schnell von einem Objekt zum nächsten.
Um nichts zu verpassen, verweilen sie nur den Bruchteil einer Sekunde an einem Ort. Etwa 30 Millisekunden dauert eine solche schnelle Augenbewegung - die so genannte Sakkade. Pro Tag nehmen die Augen etwa 100.000 dieser kurzen Momentaufnahmen auf und vermitteln sie ans Gehirn. Erst hier bekommen die einzelnen Bildpunkte ihre Position im vollständigen Bild zugewiesen.
Diese Verarbeitung fordert dem Hirn Kompromisse ab. Um aus unvollständigen Informationen das bestmögliche Ergebnis zu erzielen, spielt es kleine Veränderungen herunter, die nicht zu den Erwartungen passen, oder vergisst sie einfach.
So verwirft es Deutungen, die zu unwahrscheinlich scheinen, etwa weil sie nicht mit Erfahrungen übereinstimmen. Manches passt auch nicht in den kurzen Zeitraum einer Sakkade und kann damit für das Gehirn einfach nicht wahr sein.
Gehirn als optimierter Rechner
Es mit der Wahrheit nicht immer so genau zu nehmen und hin und wieder zu raten, ist aber offensichtlich die optimale Arbeitsweise in einer solchen Situation. Das Gehirn macht so das Beste aus nicht perfekten Sinnesorganen.
Diese Theorie bestätigten jetzt kanadische Wissenschaftler von der Universität in Toronto, als sie einen mit allen Sinnen ausgestatteten Computer mit den dagegen benachteiligt scheinenden Menschen verglichen (Nature Band 422, Seite 76 bis 80). Als der Computer Aufgaben lösen sollte, wie sie sich dem Gehirn täglich stellen, bediente er sich derselben ungenauen Arbeitsweise.
Sieben Versuchspersonen traten den Vergleich gegen den perfekten Rechner an. Während sie in einem dunklen Raum Platz nahmen und mit fixiertem Kopf auf einen Monitor schauten, erschienen dort weiße Punkte unterschiedlicher Größe, die sich in alle Richtungen bewegten. Ob ihre Augen den Objekten folgen konnten oder ob sie zu schnell von einem Ort zum nächsten sprangen, offenbarten winzige Messinstrumente, welche die Augenbewegungen der Probanden aufzeichneten.
Es stellte sich heraus, dass den Menschen die kleinen Punkte völlig entgingen. Wo sich eigentlich weiße Punkte bewegen sollten, sahen die Versuchspersonen rein gar nichts. Ihr Gehirn weigerte sich offensichtlich, die viel zu schnellen Bewegungen als realistisch anzuerkennen. Bei den größeren Objekten fiel es den Menschen leichter, sie auszumachen. Nun unterschätzten sie allerdings die zurückgelegte Entfernung.
Wann der Mensch sein Urteil auf Grund mangelhafter Informationen bilden musste, hatte es der konkurrierende Computer wesentlich leichter. Er konnte sich auf optimal funktionierende Sinnesorgane verlassen. Zudem war er in der Lage, auf einprogrammiertes Wissen zurückzugreifen, um das Gesehene einzuordnen. Doch als der Computer dieselben Aufgaben wie die sieben Versuchspersonen lösen musste, setzte er dieselbe Taktik ein. Er ignorierte und vergaß, was ihm unwahrscheinlich erschien.
Computer ahmt Gehirn nach
In einfachen Situationen wie dem Versuchsaufbau machte das künstliche Gehirn die gleichen Fehler wie der Mensch. Kleine visuelle Veränderungen spielte es herunter und nahm erst von ihnen Notiz, wenn sie groß genug waren. Ohne Vorwissen und Wahrscheinlichkeiten wären Computer und Gehirn in solchen Situationen allerdings ratlos. Nur wenn sie den Istzustand mit gespeichertem Wissen abgleichen können, gelingt der Weg aus dem Dilemma.
Ganz neu ist die zu Grunde liegende Idee jedoch nicht. Bereits im 19. Jahrhundert spekulierte der deutsche Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz (1821 bis 1894) auf ein unbewusstes Ausschlussverfahren. Schon er hielt die Sinnesorgane für unvollständig, so dass die letztendlich im Gehirn ankommenden Informationen nur ein lückenhaftes Bild der Umwelt liefern könnten. Demzufolge muss das Gehirn aus den unvollständigen Daten raten, was in der Umgebung tatsächlich vor sich geht.
In wenigen Ausnahmen versagt das Gehirn jedoch. Bei optischen Täuschungen lässt es sich aufs Glatteis führen. Denn die Veränderungen sind so unerwartet, dass es schlichtweg falsch rät.
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